Um 12 Uhr herrscht im Schützenfestzelt längst Ausnahmezustand, es geht um Sehen und Gesehenwerden an diesem Samstagmittag. Wiedersehensfreude liegt in der Luft: Man fällt sich in die Arme, flüchtige Blicke treffen den Crush am Nachbartisch, die Erzfeindin aus der Schulzeit sitzt ein paar Bänke weiter. Nach der zweiten Mass ist die Stimmung ausgelassen. Auf Instagram werden Storys hochgeladen – Beweisbilder dafür, dass man dazugehört. Dafür braucht es auch das richtige Outfit: Für junge Frauen ist das meist ein Dirndl. Das gilt nicht nur für junge Münchnerinnen, sondern auch für Besucherinnen, die nicht aus Bayern kommen.
Obwohl sie nur für ein Praktikum in München ist, hat Amelie aus Köln zwei Dirndl von Lodenfrey. Auf der Wiesn gehöre es einfach dazu, ein „richtiges“ Dirndl anzuziehen, sagt die 22-Jährige. Ähnlich ist es bei Carla, die ursprünglich aus Frankfurt kommt. Sie sieht das Dirndl als eine langfristige Investition, gute Qualität war ihr wichtig – sie hat mehr als 500 Euro ausgegeben. Das Oktoberfest sei das gesellschaftliche Ereignis des Jahres: „Alle an einem Fleck, alte und neue Freunde wiedersehen.“

Oktoberfest 2025:Und dann leuchten die Wunderkerzen im Zelt
Beim Finale auf dem Oktoberfest feiern die Gäste und Bedienungen. Die Wiesn 2025 war eine denkwürdige.
Matilda, 21, ist zum Studieren aus Hamburg nach München gekommen und hat sich „angepasst“, wie sie sagt. Um richtig in Bayern anzukommen, hat die BWL-Studentin sich ein hochwertiges Dirndl gekauft. „In Hamburg gab es immer das Vorurteil, dass Tracht so etwas wie eine Verkleidung ist“, erzählt Matilda. Erst durch ihre Münchner Freunde habe sie die Bedeutung der Tradition verstanden. Es sei schade, dass es in ihrer Heimatstadt Hamburg keine vergleichbare Tracht gebe.
Tatsächlich ist die bayerische Tracht bundesweit fast einmalig in ihrer Popularität, wie Wissenschaftlerin Simone Egger sagt, die aus München stammt und nun im Saarland zu dem Thema forscht: „Bayern hat die stärksten Symbole in ganz Deutschland.“ Bereits im 19. Jahrhundert hätten die Wittelsbacher gezielt bayerische Identität betont. Heute zeigt sich das unter anderem auf Social Media. In Videos präsentieren sich junge Frauen in bayerischen Trachten. Auch wenn man über die Theresienwiese läuft, sieht man viele, die Dirndl tragen. Vor 20 Jahren war das anders, sagt Forscherin Egger. „Bis etwa 2000 war klar: Wer Tracht trägt, signalisiert Nähe zur CSU.“ Heute seien die Grenzen durchlässiger.

Aber wieso investieren junge Leute mehrere Hundert Euro in ein Dirndl? Ein Grund ist die hohe Bedeutung, die die Wiesn für manche hat. „Das Oktoberfest ist ein Social Happening“, sagt die 22-jährige Claire aus der Nähe von Frankfurt. In ihrer Freundesgruppe herrsche fast schon Fear of Missing out – wer nicht im Schützen- oder Schottenhamelzelt dabei sei, verpasse etwas. Sie selbst möchte aber nicht auf jeden schnellen Trachtentrend aufspringen. Hochwertige, traditionelle Dirndl gefallen ihr ohnehin besser als billige Kleider mit Glitzer.
Man könnte meinen, dass Einheimische eher skeptisch reagieren, wenn Zugezogene ihre bayerische Tracht tragen. Fragt man jedoch junge Münchnerinnen, fallen die Antworten positiv aus. Für Mia, Resi und Emilia etwa, alle Anfang 20, hat Tracht einen hohen Stellenwert, die Kleidung bedeutet Heimat für sie, erzählen sie unabhängig voneinander. Sie freuen sich, dass mittlerweile viele Wiesnbesucher qualitätvolle Trachten tragen. Gerade als Münchnerin lohne es sich, in ein gutes Dirndl zu investieren, sagt Emilia. Man trage das Gewand nicht nur zur Wiesn, sondern zu vielen Anlässen.

„Tracht ist ein bisschen wie eine Schuluniform“, sagt die 22-jährige Lili, ebenfalls aus München. „Nur cooler, weil jeder es individuell interpretieren und seinen eigenen Style einbringen kann.“ Im Dirndl sehe jeder gut aus. Auch Franziska Inselkammer, Münchner Kindl und Tochter der Wiesn-Wirte Peter und Katharina Inselkammer, liebt die Individualität. Für sie ist das Dirndl Alltagsmode, wie sie sagt. „Meine Mutter trägt Tracht 365 Tage im Jahr.“ Von ihr und von ihrer Großmutter hat die junge Frau auch die meisten ihrer eigenen Dirndl geerbt. Die Wiesn hat für sie eine verbindende Wirkung: „Jeder will dabei sein. Oktoberfest heißt für mich: Gemeinschaft, neue Freunde finden, alte wiedersehen, gut essen, zusammen feiern. Gerade in schwierigen Zeiten tut so etwas Positives gut.“
Tracht und Dirndl – für Lisi Furtmayr ein Unterschied
Auch Lisi Furtmayr geht gerne auf das Oktoberfest, wie sie sagt. Dann trägt sie aber normalerweise nicht Tracht – sondern Dirndl. Die 23-Jährige unterscheidet die Begriffe genau. Seit sie denken kann, ist die junge Frau Mitglied im Trachtenverein Alpenrösl Allach. Tracht, das ist für sie das traditionelle Gewand: langer, in Falten gelegter Rock, schwarzes Mieder mit silbernem Gehänge. „Das gibt’s nicht von der Stange.“ Dirndl hingegen, das seien die Kleider, die sie privat zum Ausgehen anziehe. Das dürfe dann auch ein einfacheres Gewand sein. Jeden Trend macht die 23-Jährige aber nicht mit, sagt sie. Gescheit angezogen sollte man auch auf dem Oktoberfest sein. Das habe sich in den letzten Jahren gebessert: „Man sieht mehr schlichtere Dirndl und die meisten gehen wieder übers Knie. Das war schon mal schlimmer.“
Die echte Tracht spielt in Furtmayrs Familie eine große Rolle, auch ihre Eltern und Schwestern sind in Trachtenvereinen. Sie tragen die Gewänder regelmäßig, etwa zu Feiertagen oder Hochzeiten. Furtmayr ist gelernte Maßschneiderin und hat bereits für ihre Schwestern Gewänder genäht – ein enormer Aufwand. Allein für einen Ärmel ist sie schon mal 30 Stunden lang beschäftigt.

Für Julia Müller sind Frauen Anfang 20, die mehrere Hundert Euro ausgeben, hingegen eher eine Seltenheit. In ihrem Trachtengeschäft Fuchsdeifeswuid bietet sie Dirndl in dieser Preisklasse an. Es würden zwar durchaus auch sehr junge Kundinnen kommen. Sie beobachtet aber auch: „In dem Alter hat noch nicht jeder das Geld.“ Es seien daher meistens junge Leute, bei denen das Thema Tracht in der Familie verankert ist. Beispielsweise legen die Eltern Wert darauf oder die Oma spendiert das teure Dirndl.
Die Gesellschaft sei insgesamt schnelllebiger geworden, unabhängig vom Alter. Ihrer Einschätzung nach spielt Social Media dabei eine Rolle: „Viele wollen das Instagram-Dirndl für einen Post.“ Müller kann sich außerdem vorstellen, dass viele jüngere auch unsicher sind: Sie würden nicht negativ auffallen wollen und deswegen lieber mit der Masse gehen, statt sich ein hochwertiges Dirndl zu kaufen, das nicht aussieht wie jedes andere. Sie selbst rät dazu, lieber etwas mehr zu investieren: Dann habe man nicht nur „ein One-Hit-Wonder für eine Saison“.

