Test zur Barrierefreiheit:Hält die Wiesn ihr Werbeversprechen?

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Ohne fremde Hilfe kaum ein Durchkommen: Markus Dieminger steuert durch das Paulaner-Festzelt. (Foto: Stephan Rumpf/)

Ist das Oktoberfest wirklich so barrierefrei, wie es von den Verantwortlichen behauptet wird? Ein Wiesn-Bummel mit einem Münchner, der im Rollstuhl oft nicht weiterkommt - und über manches trotzdem ganz zufrieden ist.

Von Melanie Strobl

Lächelnde Gesichter, Menschen, die sich im Arm halten, und der ein oder andere, der mehr wankt als steht - im Paulaner-Festzelt auf dem Oktoberfest ist die Stimmung gerade gut. Das gilt auch für diejenigen, die keinen der beliebten Sitzplätze ergattern konnten. Sie stehen auf den Gängen und richten ihren Blick nach vorne, als die Kapelle erneut ein "Prosit der Gemütlichkeit" anstimmt. Handys werden gezückt, filmen das Spektakel mit oder machen Fotos. Wer durch die vollgestopften Gänge des Bierzelts will, quetscht sich eben durch. Doch für Markus Dieminger geht das nicht so einfach. Er wartet in seinem Rollstuhl hinter der Menge, bis die anderen auf ihn aufmerksam werden und Platz machen.

Diemingers rechte Hand liegt auf dem Joystick seines elektrischen Rollstuhls. Er steuert nach vorne, dann bleibt er plötzlich stehen. "Jetzt ist genau das passiert, was nicht passieren sollte", sagt er. Jemand hat sich vorbeigedrängelt und ist gegen seine Hand gestoßen, die nun nicht mehr richtig auf dem Joystick liegt. Erst als Dieminger jemand hilft, die Hand wieder passend auszurichten, geht es für ihn weiter. Am Ende hilft ein Kellner, dass er mit seinem Rollstuhl besser durch den vollgestopften Gang kommt. Immer wieder schreit der Mitarbeiter: "Achtung, aufpassen!" und "Vorsicht!", bis die Menschen eine Gasse für den Rollstuhl bilden.

Dieminger ist einer von wenigen Rollstuhlfahrern im Zelt. (Foto: Stephan Rumpf/)

Der 23-jährige Student ist dieses Jahr nicht zum ersten Mal auf dem Oktoberfest. Als echtes Münchner Kindl sei er bestimmt schon acht Mal da gewesen, sagt Markus Dieminger. Er freut sich, dass es nach zwei Jahren Pandemie-Pause wieder möglich ist, über die Wiesn zu gehen - oder in seinem Fall: zu fahren. Dieminger hat SMA, eine spinale Muskelatrophie vom Typ 3 - eine seltene Erkrankung bestimmter Nervenzellen im Rückenmark. Deshalb sitzt er, seit er fünf Jahre alt war, im Rollstuhl. Ein persönlicher Assistent unterstützt ihn in seinem Alltag, denn er ist in seiner Beweglichkeit stark eingeschränkt.

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Als Dieminger zurück ins Freie fährt, heißt es erst mal: durchatmen. "Man kommt nicht durch, und es ist eng", lautet sein Fazit nach dem kurzen Abstecher ins Zelt. Nächstes Mal müsse er wohl früher kommen oder von vornherein einen Platz reservieren, sagt er. Auf der offiziellen Website zum Oktoberfest heißt es, dass alle großen Festzelte mit mindestens 20 behindertengerechten Plätzen im Innenbereich und 20 im Biergarten ausgestattet sind. Außerdem verfüge jede der großen sowie viele der kleinen Festhallen über behindertengerechte Toiletten. Auch abseits der Zelte wirbt die Wiesn mit einem "barrierefreien Volksfestvergnügen". An vielen Buden gibt es Rampen für Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer sowie einige Fahrgeschäfte, bei denen auch Menschen mit Behinderung mitfahren können - zum Beispiel im großen Riesenrad.

Während Markus Dieminger in Richtung der Gondeln fährt, prasselt immer wieder Regen auf die Theresienwiese. Das Wetter hat für den Studenten an diesem Tag sowohl Vor- als auch Nachteile. Vorteile deshalb, weil weniger los ist und er dementsprechend besser über das Gelände komme. Ungünstig ist die Nässe jedoch, wenn Dieminger über eine Rampe aus Metall fahren muss. Die Reifen seines Rollstuhls könnten dadurch leichter rutschen, sagt er. Besser sei eine Rampe aus Holz.

Wenn Metallrampen nass sind, rutsche man mit dem Rollstuhl leichter weg, sagt Dieminger. (Foto: Stephan Rumpf/)
Dieser abgesenkte Zugang ist optimal, da der Untergrund rau ist. (Foto: Stephan Rumpf/)

Ein mit Asphalt abgesenkter Zugang, den Dieminger bei einer Waffelbäckerei entdeckt, sei ebenfalls eine gute Lösung für Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer, erklärt er: "Weil es rau ist und man nicht wegrutscht." Als ganz barrierefrei möchte der Student den Stand dann aber auch nicht bezeichnen. Die Theke sei, wie auch bei anderen Wiesnbuden, zu hoch. Die Bedienungen würden einen Kunden nur schlecht hören, wenn sie oben stehen und man selbst unten sitze. "Das Problem hat man aber prinzipiell überall", sagt Dieminger, "auch beim Bäcker oder beim Metzger." In der Regel gebe es genug Mitarbeitende, die ihre Hilfe anbieten, meint der Student.

Note 2 bis 3, je nach Zelt oder Fahrgeschäft

Nach einigen Metern Fahrt kommt Dieminger am weiß-blauen Riesenrad an. Auf der linken Seite hat er schon den behindertengerechten Zugang zu den Gondeln erspäht - doch vorher muss die Fahrt bezahlt werden. Da der Eingang zu den Kassen allerdings nicht ebenerdig zu erreichen, sondern leicht erhöht ist, hat Dieminger keine Möglichkeit, selbst dorthin zu gelangen. "Das ist schon mal sehr dumm gelöst und nicht zu Ende gedacht", sagt der 23-Jährige. Auf Nachfrage bei der Verkäuferin heißt es, die meisten Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer hätten eine Begleitperson dabei, die beim Bezahlen helfen könne.

Besser sieht die Situation dann beim behindertengerechten Zugang links neben den Kassen aus. Über eine Rampe kommt Dieminger zu den zwei Gondeln, die auch für Rollstühle geeignet sind. Hier helfen Mitarbeiter des Riesenrads auch beim Ein- und Ausstieg, falls es nötig ist.

Der Zugang zu den Kassen beim Oktoberfest-Riesenrad stellt für Rollstuhlfahrer ein Hindernis dar. (Foto: Stephan Rumpf/)
Über eine Rampe kommt Markus Dieminger zu den rollstuhlgerechten Gondeln. (Foto: Stephan Rumpf/)
Die Türen hier sind breiter als die anderen. (Foto: Stephan Rumpf/)

Obwohl Dieminger einige Stellen auf der Wiesn nicht immer als rollstuhlgerecht empfindet, bewertet er seinen Besuch grundsätzlich positiv. Der Barrierefreiheit auf dem Oktoberfest würde er die Note 2 bis 3 geben, sagt der Student, "je nachdem, in welchem Zelt oder Fahrgeschäft man ist". Er merke beispielsweise, dass es mehr Behindertentoiletten auf dem Gelände gebe als früher. Und auch abseits des Oktoberfests habe er das Gefühl, dass immer mehr Menschen auf das Thema Barrierefreiheit achten: "Wir sind schon sehr weit gekommen in München mit der Barrierefreiheit, aber es ist immer noch Luft nach oben."

Markus Dieminger fallen verschiedene konkrete Verbesserungsvorschläge für das Oktoberfest ein: Zum Beispiel könnten noch mehr Stände die Verkaufstheken absenken und Rampen anbringen. Außerdem wären Fotos der behindertengerechten Zugänge im Internet hilfreich, sagt Dieminger. Damit könnten Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer schon vor dem Besuch abschätzen, ob ein Fahrgeschäft für sie überhaupt benutzbar sei. Einem "barrierefreien Volksfestvergnügen" würde so noch weniger im Weg stehen.

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