Offene Stellen:424 000

In München fehlen Zehntausende Fachkräfte - und der Mangel wird immer schlimmer. Wir bekommen das zu spüren: beim Warten auf den Pass oder auf einen Handwerker. Und natürlich, wenn die S-Bahn ausfällt

Manche Probleme brechen über Politik und Wirtschaft herein wie ein Tsunami, der sich nicht berechnen lässt und binnen Sekunden alles überrollt. Und dann gibt es jene Themen, die sich anschleichen, langsam anschwellen. Das, was die Wirtschaft in Holzschnittdeutsch als "Fachkräftemangel" bezeichnet, gehört zu letzterer Kategorie.

38 000 Fachkräfte fehlen der Münchner Arbeitswelt aktuell, jeden Tag. 2030 werden es sogar 112 000 sein. So geht es aus bisher noch unveröffentlichten Zahlen der Industrie- und Handelskammer (IHK) hervor. Menschen, die nicht da sind, führen zu Arbeit, die liegen bleibt. Das ist ärgerlich für Kunden, die länger auf Waren oder Dienstleistungen warten müssen; es ist schlecht für Kollegen, die sich überlastet fühlen, die Urlaube verschieben oder hustend ins Büro kommen müssen. Schlecht ist es aber auch für die Unternehmen und Behörden, die nicht so effizient funktionieren wie gewünscht.

Ganz besonders stark fehlen dem neuen IHK-Fachkräftereport zufolge Spitzenkräfte in Veranstaltungsmanagement, Tourismus und Sport, dicht gefolgt von der Hotellerie und technischen, naturwissenschaftlichen Berufen. Darunter gut Ausgebildete und Studierte, auch Ingenieure. Noch mangelt es in München genauso an Akademikern wie an Menschen, die eine Lehre absolviert haben. Sie werden im Jahr 2030 besonders stark fehlen. Zurück ins München von heute. Wie sieht er also jeden Tag aus, dieser Fachkräftemangel? Eine Reise durch die Stadt, zu Brandherden und zu den Menschen, die sie löschen müssen.

Bürgerbüros

Kaum jemand in der Stadt dürfte die Flammen näher und schmerzhafter verspüren als Anton Hanfstängl. Er leitet für das Kreisverwaltungsreferat die Bürgerbüros, in denen mancher Münchner Teile seines Urlaubs verbringt, wenn er seinen Pass verlängern, das Auto zulassen oder den neuen Wohnsitz anmelden will. Eine Viertelstunde Service kostet schon mal einen halben Tag lang anstehen. "Wir wissen, dass wir völlig unzumutbare Wartezeiten haben", sagt Hanfstängl. Es brennt lichterloh.

Offene Stellen: Verwaltungsfachkraft: Die Aufgaben werden immer mehr, gelerntes Personal ist kaum auf dem Markt. Und wenn doch, ist München oft zu teuer.

Verwaltungsfachkraft: Die Aufgaben werden immer mehr, gelerntes Personal ist kaum auf dem Markt. Und wenn doch, ist München oft zu teuer.

(Foto: Stephan Rumpf)

Soll er halt löschen, meinen die Sieben-gescheiten. Die Stadt respektive der Herr Hanfstängl müssten doch nur mehr Mitarbeiter einstellen. Das versucht der Leiter des Bürgerbüros verzweifelt, Stellen sind genehmigt. "Aber der Markt bei Verwaltungskräften ist leer." Eine Zeit lang kamen noch Menschen aus dem Osten, die sich in München ein besseres Leben erträumten. Auch das ist vorbei. Nur noch vereinzelt verirrt sich eine gelernte Fachkraft in die Stadt, die sie sich mit dem Gehalt im öffentlichen Dienst kaum mehr leisten kann. Die hohen Mieten und ebensolche Lebenskosten sind in der Wirtschaft leichter verdient als bei der Stadt. Also stellt Hanfstängl seit neuestem auch Steuerfachgehilfen oder Bankkaufleute ein. "Wir bekommen gute Leute", sagt er. Aber: "Die müssen wir zuerst ein Jahr lang ausbilden." Kann einer Verwaltung, ist er begehrt, auch bei anderen Referaten der Stadt. In denen er nicht, wenn er zur Mittagspause das Büro verlässt, in die Augen von 300 Menschen blickt, die stundenlang auf eine Audienz bei ihm warten.

Handwerk

Messegelände Riem, Halle B3 am Freitagvormittag. Auf der Internationalen Handwerksmesse läuft das Handwerk zur Leistungsschau auf und gibt sich höchstmodern. An Stand 344 messen sich Jungkonditoren bei der "Tortengala". Sie zaubern Nougattürmchen und Marzipanblumen. In einer Tombola kommen die Leckereien zum guten Zweck unter den Hammer. Doch bezwecken will die "Süße Zunft" damit natürlich noch etwas Anderes. Werbung machen. Weniger für die Torten als dafür, dass junge Leute sie nach ihrem Schulabschluss noch backen wollen. Weil immer mehr, mittlerweile mehr als die Hälfte, der Münchner Schüler die Hochschulreife erreichen, entscheiden sich auch immer mehr für ein Studium. Von außerhalb kommen nur wenige Azubis nach München, da der Lohn kaum für die Miete in München reicht, deshalb trifft der Mangel die Stadt besonders hart. Jede fünfte Lehrstelle im Handwerk blieb zuletzt unbesetzt, 700 waren es insgesamt. Besonders schwer taten sich das Nahrungsmittelhandwerk, aber auch die Baubranche. Das Ergebnis: Schon mal versucht, schnell ein kaputtes Heizungsthermostat auswechseln zu lassen? Oder Fensterrahmen streichen zu lassen?

Pflege

Neulich vor einer Münchner Klinik. Da hängt plötzlich ein Plakat, Krankenschwestern und -pfleger werden gesucht. Dummerweise hat dieses Plakat nicht die eigene Klinikleitung aufgehängt, sondern die Konkurrenz. Im Pflegebereich fehlen deutschlandweit 65 000 Stellen. Keine Münchner Klinik, die nicht jammert. Verzweifelte bis skurril anmutende Aktionen sind die Folge: So haben fast alle Kliniken eigene Aktionen gestartet, um Personal im Ausland zu rekrutieren, in Thailand sogar. Dass es vielleicht nicht die allerschickste Beschäftigung ist, anderen Leuten zu helfen - das dürfte nur einer der Gründe für den Mangel sein. Verdienen können Krankenschwestern zumindest am Beginn ihres Berufslebens nicht einmal so schlecht. Problematisch wird es später: Pflege ist immer noch ein Frauenberuf, 85 Prozent der Beschäftigten sind weiblich. Und weil viele aus familiären Gründen kürzertreten, sieht der Tarifvertrag nach dem 35. Lebensjahr kaum Steigerungen vor. So fehlen vor allem höher qualifizierte Mitarbeiter, Intensiv- oder OP-Pfleger. Christian Hagl, Chef der Herzchirurgie im Klinikum Großhadern, beklagt, dass er lange nicht so viel operieren kann, wie er eigentlich möchte, weil das Personal nicht ausreicht. Und die immer wieder lautstark beklagte Überlastung der Notaufnahmen in der Stadt liegt vor allem daran, dass Krankenhäuser ihre Notfall- und Intensivbetten von der zentralen Verteilung abmelden, weil keine Pfleger da sind.

Lokführer

Dass Lokführer fehlen, merken auch die Fahrgäste. Verstärkerzüge fielen aus, weil nicht alle Schichten besetzt werden konnten. Die S-Bahn-Leitung räumt ein, dass die Lage bei den Lokführern noch immer "angespannt" sei. Und sie versucht, mit "Funktionsausbildungen" zusätzliche Kräfte zu rekrutieren: Berufserfahrene lernen in einem neunmonatigen Crash-Kurs das Lokführer-Handwerk. Im Gegenzug, kritisiert Isidoro Peronace von der Eisenbahnergewerkschaft EVG, hat die S-Bahn die Zahl der Plätze für die dreijährige Lokführerausbildung reduziert: von 20 auf mittlerweile zwölf pro Jahr. Die Deutsche Bahn (DB) verteidigt ihren Kurs: Dank der Funktionsausbildung könnten die dringend benötigten Leute deutlich rascher in den Führerständen eingesetzt werden. Na dann.

Polizei

"Übelst faul?" So will sich die Polizei - nicht nur die in München - mit ihrer vor zwei Wochen gestarteten, millionenteuren Werbekampagne für junge Leute interessant machen. 200 bis 300 Kollegen fehlen allein in München. 1400 Neueinstellungen bayernweit soll es in diesem Jahr geben. Dass man groß in die Rekrutierung und Ausbildung investieren muss, um die vielen Stellen besetzen zu können, weiß man im Präsidium. München ist ein teures Pflaster. Und bis die Ausbildung eines neu eingestellten Polizisten abgeschlossen ist, vergehen drei Jahre. Absolventen des Sonderprogramms München verpflichten sich, mindestens zehn Jahre in der Landeshauptstadt Dienst zu tun. Gewerkschafter beklagen seit langem die Unterbesetzung gerade der Münchner Polizei.

Gastronomie

Die Karriere vom Tellerwäscher zum Millionär scheitert jetzt oft schon am Start. "Spüler, das will heute keiner mehr machen", sagt der Inhaber eines Münchner Spezialitätenrestaurants. "Dabei würden wir allein fürs Tellereinräumen gut zahlen. Der Mindestlohn ist da überhaupt kein Thema." Hotellerie wie Gastronomie bieten kaum Nine-to-Five-Jobs an, Arbeitszeiten in den Abendstunden sind normal. Übermäßig gut bezahlt sind Jobs in der Gastronomie zwar nicht, aber die Nachfrage hat auch die Gehälter steigen lassen. Sternekoch Ali Güngörmüs sagt: "Man muss froh sein, wenn ein Azubi wirklich die ganze Lehrzeit macht und nicht vorher das Handtuch wirft." Zu anstrengend ist der Job. Immerhin kann Cornelia Brauer, Leiterin der städtischen Berufsschule für die Gastronomiebranche, einen leichten Zuwachs an Kochlehrlingen verzeichnen. Sieben Klassen hat sie jetzt im ersten Ausbildungsjahr. Macht 460 künftige Köche. Nicht üppig bei rund 5000 Gaststätten in München, aber immerhin. "Dazu kommen noch Kantinen, Großküchen und andere Einrichtungen, in Seniorenheimen etwa", sagt Susanne Droux vom Bayerischen Hotel- und Gaststättenverband, "die Ansprüche sind ja auch dort enorm gestiegen. Und der Bedarf an Köchen wächst stetig." Auch in Hotels. "Die klassisch ausgebildete Hotelfachkraft findet sich nicht mehr so leicht. Wir müssen uns die fast schon selber schnitzen", sagt Conrad Mayer, Inhaber des Conrad Hotel de Ville und Kreisvorsitzender des Hotel- und Gaststättenverbands. "Der Druck nimmt zu in München."

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