OEZ in München:Der große Streit über das Motiv von David S.

OEZ in München: Muss die Inschrift am Mahnmal geändert werden? Sie erinnert an die Opfer des "Amoklaufs" am Olympia-Einkaufszentrum.

Muss die Inschrift am Mahnmal geändert werden? Sie erinnert an die Opfer des "Amoklaufs" am Olympia-Einkaufszentrum.

(Foto: Robert Haas)
  • War Rechtsextremismus oder Mobbing das Motiv? Noch immer wird in München darüber gestritten, wie die Morde am Olympia-Einkaufszentrum einzuordnen sind. David S. tötete dort am 22. Juli 2016 neun Menschen.
  • Ein Gutachten für das LKA sagt nun: Die Tat war kein Terroranschlag, sondern ein Amoklauf.
  • Die Gutachterin schreibt, David S. habe Warnsignale eines Amokläufers ausgesandt.

Von Ronen Steinke

Die Zahl 17 spielte eine wichtige Rolle in der bizarren Welt des David S. Immer wieder taucht sie auf, wie ein Glücksbringer, in Spitznamen zum Beispiel, die er sich im Internet gab, wie "17hunter". David S. war besessen von Amokläufern, er verehrte die beiden Schüler, die bislang in Deutschland die meisten Menschen erschossen haben: den Täter von Winnenden, der 15 Menschen tötete, und den Täter von Erfurt, der 16 Menschen erschoss. David S. wollte in München beide übertreffen, glaubt die Kriminologin Britta Bannenberg. Auf 15 und 16 folgt 17.

Noch immer wird in München darüber gestritten, ob der psychisch auffällige Täter, der am 22. Juli 2016 am Olympia-Einkaufszentrum losschlug und letztlich neun Menschen tötete, ein Amokläufer war, der aus privaten Rachemotiven handelte, so wie es das Landeskriminalamt (LKA) und die Münchner Staatsanwaltschaft sehen. Fast alle seine Opfer waren Migranten. Schon ein Jahr vor der Tat hatte David S. ein "Manifest" geschrieben, in dem er von "ausländische Untermenschen" schrieb, die er "exekutieren" wolle.

Hinterbliebene der Opfer fordern deshalb, die Tat klarer beim Namen zu nennen: als einen rassistischen Anschlag. Und jedenfalls die Stadtverwaltung hat sich im vergangenen Jahr an ihre Seite gestellt - gestützt durch drei Gutachter, die Rechtsextremismusforscher Matthias Quent, Christoph Kopke und Florian Hartleb. Dem schloss sich selbst das Bundesamt für Justiz in Bonn an.

In diesem Deutungsstreit bereiten die bayerischen Sicherheitsbehörden, wie sich nun zeigt, einen Gegenschlag vor. Das LKA hat ein eigenes Gutachten in Auftrag gegeben, bei der Gießener Kriminologin Bannenberg, und Bannenberg führt darin auf 85 Seiten aus, David S. sei nicht politisch motiviert gewesen. Juristisch spielt das keine Rolle mehr, der Täter ist tot, die Entschädigungszahlungen an die Hinterbliebenen fließen schon. Aber politisch ist für die bayerische Justiz derzeit kaum eine Frage so heikel.

Die Tat wäre der größte rechtsextreme Anschlag seit dem Oktoberfest-Attentat 1980

Wenn David S. tatsächlich ein Rechtsterrorist war, dann wäre seine Tat der schwerste rechte Anschlag seit 1980, seit dem Oktoberfest-Attentat. Der Freistaat Bayern will sich nicht nachsagen lassen, dass er da wegsehe. Der Fall rührt aber auch an einer Grundsatzfrage, andere Bundesländer blicken daher aufmerksam nach München. Die Abgrenzung zwischen Terror und Amok wird immer öfter zum Problem, auch bei islamistischen Tätern, die oft eine psychische Leidensgeschichte hinter sich haben.

Bereits am 9. April hat die Kriminologin Bannenberg ihr Gutachten, das Süddeutscher Zeitung und WDR vorliegt, in München vorgestellt, allerdings nur intern, hinter verschlossenen Polizei-Türen. Etwa 100 Zuhörer waren da, wie mehrere Teilnehmer berichten, es kamen der Polizeipräsident, Vertreter der Staatsanwaltschaft, auch Leute aus dem Innen- und Justizministerium. Am Ende besprachen die Beamten, was viele von ihnen als drängendes Problem ansehen: Die drei Rechtsextremismusforscher Quent, Kopke und Hartleb brächten mit erstaunlich großem Erfolg die Öffentlichkeit gegen die Polizei auf. Die Polizei stehe da, als sei sie auf dem rechten Auge blind.

Das Argument der Kriminologin Bannenberg ist pragmatisch. Wozu soll man überhaupt streiten über Begriffe?, fragt sie. Amok und Terror sind keine juristischen Fachausdrücke. Amok und Terror sind auch kein Gegensatzpaar. Das eine ist ein Begehungsmuster, ein sogenannter Modus operandi. Das andere ist eine Motivation. Bannenberg schreibt, es lohne sich aber, im Nachhinein Tat und Täter aufwendig zu analysieren. Denn eine "Einordnung" der Morde könne helfen, ähnliche Taten in Zukunft durch "Früherkennung" zu verhindern. Das sei wichtiger als Rücksicht auf Gefühle von Hinterbliebenen.

Bannenberg bestreitet gar nicht, dass David S. seine Opfer nach rassistischen Kriterien auswählte. Sie schreibt: "Wie andere Amoktäter auch, hatte S. eine bevorzugte Feindgruppe: Er verabscheute junge Migranten einer spezifischen Ethnie." Insofern sei er anders gewesen als die meisten Amoktäter, die "vornehmlich Lehrer und Lehrerinnen oder Mädchen" töten wollen. Bannenberg erklärt das mit einem einschneidenden Erlebnis, das Ermittler rekonstruiert haben. David S. war in ein türkisches Mädchen verliebt, seine Flirtversuche endeten jedoch in einer Blamage. Narzisstisch gekränkt steigerte sich der psychisch auffällige Jugendliche daraufhin in wahnhaften Hass. Davon zeugen Chats.

Aber die Kriminologin fragt: Was hätte es gebracht, wenn die Polizei nun David S. vor der Tat als einen militanten Ausländerhasser ins Visier genommen hätte? Hätten die Beamten dann früher erkannt, wie gefährlich er war? Nein, meint die Forscherin: Hätten die Ermittler das Jugendzimmer und den Computer durchsucht, dann hätten sie letztlich nichts gefunden, was in die Richtung Rechtsterrorismus passte. "Der Täter war weder auf rechtsextremistischen Internetseiten noch in einschlägigen Foren aktiv, schon gar nicht hat er Kontakt zu rechten Gruppen gesucht, schon deshalb, weil er niemals eine Gruppentat im Sinn hatte." Die Kriminologin glaubt: Womöglich hätte die Polizei, wenn sie stur nach "Rechts" gesucht hätte, sogar Entwarnung gegeben und die Gefährlichkeit von David S. übersehen.

Gutachterin: David S. hat Warnsignale eines Amokläufers ausgesandt

Deshalb plädiert sie für etwas anderes. Hätten Ermittler stattdessen auf Amok-Warnsignale geachtet, wäre es besser verlaufen, schreibt Bannenberg. Typisch für Amoktäter seien "narzisstische und paranoide Züge". S. sei dafür geradezu ein Paradebeispiel gewesen, "extrem kränkbar, aber nicht impulsiv oder aggressiv auffällig", sondern von langer Hand planend. Typisch sei auch seine "Selbststilisierung als sich rächendes Opfer" gewesen. Es klingt wie eine Checkliste, auf der man Punkte abhakt. David S. erfüllt nahezu jeden Punkt.

Man hätte diese Anzeichen früher ernst nehmen müssen, schreibt Bannenberg. David S. war in stationärer psychiatrischer Behandlung, von Juli bis September 2015, also ein gutes Jahr vor der Tat, und schon dort sprach er von Schießereien, Mobbing, Amok, Tod. Er malte Hakenkreuze, bedrohte andere jugendliche Patienten. Er sagte, er wolle "Amokläufer Z" genannt werden. Drei Mädchen waren so beunruhigt, dass sie von ihren Eltern abgeholt werden wollten. Die Kriminologin übt scharfe Kritik: Vier Psychiater und Psychologen hätten das beunruhigende Verhalten von David S. registriert, aber gemeint, dass er trotzdem keine Gefahr für andere Menschen darstelle.

Das sei ein fataler Fehler gewesen. Wäre die Polizei präventiv alarmiert worden, hätte sie im Jugendzimmer und auf dem Computer von David S. bereits zahlreiche Hinweise auf Amokmotive entdecken können. Deshalb fordert die Kriminologin für die Zukunft, dass Jugendpsychiater besser über Warnsignale für Amoktaten informiert werden. Zu solchen Signalen hat sie selbst zuletzt im Auftrag des Bundesbildungsministeriums geforscht.

Sicher ist, dass mit dem Gutachten der Streit in München nicht beendet ist. Als zuletzt die drei Rechtsextremismus-Forscher ihre Analysen vorstellten, wurden sie hinterher teils für ihre Methodik kritisiert. Vor allem Florian Hartleb vertritt eine umstrittene Theorie. Demnach soll David S. sich als "einsamen Wolf" eines weltweiten Rechtsterrorismus verstanden haben. Es gibt sehr wenig Hinweise darauf, dass er sich mit einer solchen Ideologie wirklich befasste.

Über die wissenschaftliche Qualität des Gutachtens von Bannenberg werden Fachleute vielleicht auch noch diskutieren. An einigen Stellen beschreibt sie die Gedanken des Täters, als würde sie diese kennen. "Dass er die Polizeibeamten bat, ihn zu erschießen, hat mit der Angst zu tun, Schmerzen zu erleiden und möglicherweise zu überleben." Das sei immer so. "Was gegenüber den Opfern an Empathie fehlt, ist an Selbstmitleid bei den feigen Tätern umso stärker ausgeprägt." 24 wissenschaftliche Aufsätze zitiert Bannenberg, um den analytischen Rahmen für ihre Argumentation abzusichern. Allerdings stammen 15 von ihr selbst.

Die Staatsregierung hält Bannenbergs Gutachten derzeit noch unveröffentlicht in der Hinterhand. Sie will es erst benutzen, wenn es ihr in den bevorstehenden Landtagsdebatten als angebracht erscheint. Oder wenn die Opposition es erzwingt. Vorerst, heißt es, solle nur eine gekürzte Fassung des Gutachtens erscheinen, in der Juli-Ausgabe der Fachzeitschrift Kriminalistik. Sie wird nicht von unabhängigen Wissenschaftlern herausgegeben. Sondern von den Chefs des Bundeskriminalamts und einiger Landeskriminalämter.

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