Süddeutsche Zeitung

ÖPNV-Debatte:Mit Gratis-Tickets würde Münchens Nahverkehr zusammenbrechen

  • Als "absolut kontraproduktiv" wertet der Geschäftsführer des Münchner Verkehrsverkehrs- und Tarifverbunds die Pläne, den öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten.
  • Das Bus- und Bahnnetz sei bereits an der Kapazitätsgrenze, die höhere Nachfrage bei kostenlosem Angebot wäre nicht zu bewältigen.
  • Sprecher von MVV und MVG fordern, stattdessen Geld in die Infrastruktur zu investieren.

Von Sven Loerzer

Vom Vorstoß der Bundesregierung, als Beitrag zur Luftreinhaltung den öffentlichen Nahverkehr kostenlos anzubieten, halten die Münchner Verkehrsunternehmen wenig. Als "absolut kontraproduktiv" und eine "falsche Weichenstellung" wertet Alexander Freitag, Geschäftsführer des Münchner Verkehrs- und Tarifverbunds (MVV) die Berliner Pläne.

Für München würden sie bedeuten, dass rund 920 Millionen Euro an jährlichen Einnahmen im Verkehrsverbund durch Steuergelder ersetzt werden müssen. Statt das Geld in "konsumtive Ausgaben" wie den kostenlosen Nahverkehr zu stecken, wäre es seiner Ansicht nach sinnvoller, das Angebot auszubauen und die Infrastruktur zu verbessern. Auch für Ingo Wortmann, Geschäftsführer der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG), die für den MVV U-Bahn, Tram und Busse betreibt, liegt darin die Voraussetzung, um mehr Fahrgäste befördern zu können.

Denn nicht mangelnde Attraktivität ist das Problem. "Die Menschen nehmen das Nahverkehrssystem an, wir stoßen in den Hauptverkehrszeiten an die Grenzen der Kapazität", sagte Freitag. Mehr als 710 Millionen Fahrgäste beförderte der MVV im letzten Jahr. Die zu erwartende noch höhere Nachfrage bei einem kostenlosen Angebot sei nicht zu bedienen. In München, wie auch vielen anderen Großstädten, sei der öffentliche Nahverkehr "längst an seiner Leistungsfähigkeitsgrenze angekommen und nicht mehr in der Lage, innerhalb kürzester Zeit signifikant mehr Fahrgäste zu befördern", sagt Wortmann.

Die 920 Millionen Euro sollten deshalb anders investiert werden, fordert MVV-Chef Freitag. "Damit könnten wir auf den Außenästen alle Ausbaustrecken, die U-Bahn-Linie U 9 und den Nordring finanzieren." Offenbar sei der Vorstoß aus Berlin, um den Individualverkehr und darüber die Schadstoffbelastung in den Städten zu verringern, auch politisch nicht durchdacht. Denn im Koalitionsvertrag findet sich dazu nichts. Freitag zählt zu den nötigen Verbesserungen auch eine Taktverdichtung und neue Fahrzeuge.

Natürlich müssten parallel attraktive Preise geboten werden, ein Nulltarif sei aber aus Fachsicht "keine Problemlösung für den Großraum München". Um den Ausbau zu schaffen, "benötigen wir ausreichende Fördermittel und vereinfachte Planungs- und Genehmigungsabläufe, die wir in der Vergangenheit nicht hatten", erklärt Ingo Wortmann von der MVG. Mehr Nahverkehr sieht er als "ein wichtiges Instrument zur Luftreinhaltung, aber es müssen zunächst die Voraussetzungen geschaffen werden". Abgesehen davon sei "völlig ungeklärt, wie die Finanzierung des laufenden Betriebs ohne Fahrgeldeinnahmen erfolgt".

Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) dagegen bietet München "natürlich sehr gern als Modellstadt für einen vom Bund finanzierten und damit für die Bürger kostenlosen öffentlichen Nahverkehr an". Aber auch er hofft, dass "der Ausbau der Infrastruktur in Zukunft vom Bund deutlich höher bezuschusst werden wird". Die Stadt habe mit ihrer Ausbau-Offensive bereits die richtigen Weichen gestellt. Der Ebersberger Landrat Robert Niedergesäß (CSU), der auch Sprecher der acht Landkreise aus dem MVV-Verbund ist, begrüßt grundsätzlich den Vorstoß aus Berlin, weil er den Nahverkehr attraktiver machen könne: "Diese Diskussion ist dringend nötig."

Die Fahrgastvertreter reagieren wiederum zurückhaltend auf die Idee mit dem Nulltarif. Dass sich die Politik auf den Nahverkehr besinne zur Lösung der Probleme, statt sich nur mit Elektroautos und Carsharing zu beschäftigen, wertet Berthold Maier, Sprecher des Arbeitskreises Attraktiver Nahverkehr, als positiv. Allerdings gebe es in München nicht zu wenig Fahrgäste, sondern das Problem, "wie man sie wegkriegt". Vor allem die Tangenten im Nahverkehr seien zu schlecht ausgebaut. Maier hält es deshalb für sinnvoller, dem Stadtrat die Entscheidung zu überlassen, wie der Betrag zu investieren sei. Teile davon könnten für Tarifreduzierungen verwendet werden, viel zu tun sei aber jedenfalls beim Ausbau des Angebots.

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SZ vom 15.02.2018/huy/sim
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