SZ-Adventskalender:Kreativ zur Autonomie

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Das Heilpädagogische Centrum in Oberschleißheim fördert Menschen mit kognitiven Einschränkungen auf besondere Weise.

Von Gudrun Passarge, Oberschleißheim

Christian und seine Frau Tuba stehen auf dem Kopf, jedenfalls kurzzeitig. Katharina Hormann hat die in strahlendem Blau leuchtende Leinwand umgedreht, damit sie die letzten Feinheiten am oberen Rand ausmalen kann. Es ist ein buntes Bild mit fröhlichen Menschen, Blumen und Vögeln. Hormann hat das Down-Syndrom, sie ist eine von 13 Künstlern, die im Oberschleißheimer Atelier des Heilpädagogischen Centrums des Augustinums (HPCA) jeden Tag zur Arbeit kommen. Die Menschen mit kognitiven Einschränkungen produzieren hier Kunst unter dem Titel "Outsider Art".

Klaus Mecherlein, der Leiter des Ateliers, findet den Begriff treffend. "Es sind Menschen, die sich nicht am Kulturbetrieb orientieren", sagt er, vielmehr schöpften sie aus sich selbst heraus, "aus ihren eigenen Wurzeln". Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, den Begriff Behinderung mögen die Betroffenen nicht, lebten häufig in einer Randposition. Sie kennen psychische Konflikte, Traumata und Ängste. Dinge, die auch ganz selbstverständlich in ihre Kunst einfließen. Und so fallen die Werke der unterschiedlichen Künstler auch höchst unterschiedlich aus. Bei einem Rundgang durch das Atelier zeigt sich schnell, wie verschieden die Herangehensweise und der Stil der Kreativen im Atelier sind. Jeder hat seinen festen Arbeitsplatz. Eine junge Frau arbeitet gerade an einer Art Handyhülle, die sie gestalten will. Andere sind über ihre Bilder gebeugt. Julius Hartauer etwa gestaltet einen großen fiktiven Stadtplan. Patrick Siegl ist abgetaucht in eine Welt, für die man eine Lupe bräuchte, zumindest muss man ganz nah herangehen, um die vielen Tausend Striche als das zu erkennen, was sie sind: Häuser, Menschen, Wasserfälle. Und Rudi Bodmeier arbeitet an seinem neuesten "Fantasiewesen", einer Figur im Comicstil: eine dicke Frau im Kostüm mit Biedermeier-Blumenstrauß und kleinem Hütchen, der auf einem Radieserl statt auf einem Kopf prangt. Das ganze Atelier strotzt nur so vor Kunst, selbst die Holzbalken sind bemalt.

Ausdrucksstark: Ob Katharina Hormanns bunte Welt (Bild) oder die Tierfrauen von Rudi Bodmeier, im Atelier herrscht bunte Vielfalt. (Foto: Stephan Rumpf)

Mecherlein hat das Atelier aufgebaut. Als er 1992 zum ersten Mal nach Oberschleißheim kam, gab es dort einen Malkurs, nicht mehr. Doch der 57-Jährige, der selbst schon als freischaffender Künstler gearbeitet und dann noch Kunstgeschichte, Kunstpädagogik und Psychologie studiert hat, nahm sofort die "unheimlich dichte Atmosphäre" wahr. Vor allem war er beeindruckt, "sie haben Sachen gemacht, die mich wirklich überwältigt haben".

So entstand die Idee, Künstler zu fördern. Das Projekt, kreativen Menschen mit kognitiven Einschränkungen einen festen Arbeitsplatz zu geben, wo sie ihre künstlerische Autonomie entwickeln können, sei einzigartig in Bayern, sagt Mecherlein. Träger ist das Augustinum, der Bezirk gibt einen Zuschuss. Vier Betreuer, zwei in Teilzeit, und eine Praktikantin begleiten die Künstler, die ein kleines Salär bekommen.

Arbeitsbeginn ist morgens um acht. Da kommen alle zunächst für die gemeinsame Arbeitsbesprechung zusammen, die ganz wichtig für das soziale Miteinander sei. Sie besprechen die Aufgaben, die jeder hat, persönliche Konflikte, aber auch Fußball und Politik sind Themen. Dann geht jeder an seinen Platz und arbeitet an seinen Projekten. Wie der einzelne seine Kreativität umsetzt, bleibt ihm überlassen. Zeichnen, Malen, Kaltradierungen, Linolschnitte oder auch plastische Arbeiten, "wir versuchen, jeden darin zu unterstützen, was er will." Das betrifft nicht nur künstlerisches Handwerk, sondern teils auch psychologische Betreuung. Mecherlein erzählt von den persönlichen Schicksalen der Menschen, die hier arbeiten oder gearbeitet haben. Da ist die Frau, die mit einer psychisch kranken Mutter aufgewachsen ist und missbraucht wurde, da ist jemand, der aufgrund seiner Behinderung besonders viel Zuneigung braucht, der Mann, der starke hypochondrische Züge hat und der, der zu Zwangsverhalten neigt, wenn etwas in seinem Leben in Unordnung geraten ist, und schließlich noch einer, der an seiner Beeinträchtigung leidet und nichts lieber als einen normalen Arbeitsplatz finden würde.

Auch Rudi Bodmeier hatte kein leichtes Leben. Er erzählt von seiner Schlaflosigkeit. Der 57-Jährige hat lange Zeit in Heimen verbracht. "Wir sind malträtiert worden und geschlagen von den Nonnen", berichtet er. Selbst Stacheldraht hätten sie genommen, um den Kindern damit auf den Rücken zu hauen. "Eine hat mir sogar die Hand gebrochen." Seine Fabelwesen, Frauen, die meist Tierköpfe haben, hat er damals schon gezeichnet - und wurde dafür bestraft. Im Atelier hat er seinen Platz längst gefunden. "Hier kann ich meine Kunst ausleben, was ich früher nicht konnte", sagt er. Hier habe er seine Ruhe gefunden. Dabei ist er sehr produktiv. Zwei riesige Tier-Frauen hängen an der Decke, sie wurden in einem Theaterspiel eingesetzt, aktuell hat er eine Ausstellung in Berlin, erzählt er.

Sehr erfolgreich ist auch Patrick Siegl. Er ist Autist und hat mit 23 Jahren den Euward gewonnen, den europäischen Kunstpreis für Menschen mit Behinderung. Für ihn bedeutet Kunst, etwas zu erschaffen "und eine Idee zu haben, wie es eigentlich aussehen sollte". Kunst ist für ihn auch der Ausdruck, "dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen nicht dumm sind, sondern auch schlau sein können".

Mecherlein kennt solche Vorbehalte. Er sagt, es habe nach 1945 bis in die Achtzigerjahre gedauert, bis man sich von der Idee verabschiedet habe, "dass es sich um defizitäre Wesen handelt". Viele Menschen sähen nicht die Ressourcen, nicht die Fähigkeiten, sondern die Einschränkungen. Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen würden meist als Teil einer Gruppe gesehen, oft sind sie abhängig oder gar bevormundet von Betreuern. Mecherlein stellt dem das Konzept der persönlichen Autonomie entgegen. Im Atelier ginge es nicht darum, jemanden in eine bestimmte Richtung zu drängen, sondern darum, dass sich jeder als Person entwickeln könne. Dann, sagt er, "findet er auch zu seiner künstlerischen Sprache".

© SZ vom 19.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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