Das Herz Giesings schlägt am Tegernseer Platz, und die U-Bahnstation Silberhornstraße könnte man durchaus als die Herzkammer bezeichnen: Wild pulsierend befördert sie am frühen Mittwochabend die Menschenströme treppauf, treppab. Während ein Trupp grobbeschuhter Bauarbeiter nach oben drängt, zwängen sich Schüler auf ihrem Weg nach unten zu den Zügen an ihnen vorbei. Mittendrin flinke Anzugträger, bedächtige Rentner, mit Einkaufstüten bepackte Mütter und ihr quengelnder Anhang - alle hasten dem Feierabend entgegen, während es zwischen den blauen Kachelwänden nur so hallt und schallt.
Plötzlich aber verwandelt sich dieser Ort und lässt den einen und anderen Passanten aus dem Mahlstrom der Geschäftigen ausscheren und vor der Plakatwand im Sperrengeschoss stehen bleiben. Grund dafür ist der bereits dritte Poetische Adventskalender, den der Verein "Poesieboten" dort veranstaltet. Treibende Kraft dahinter ist Katharina Schweißguth, die dabei von vielen Gleichgesinnten unterstützt wird. Schweißguth liebt die Poesie nicht nur, sie versteht es auch, die Freude am Wort mit anderen zu teilen.
Das zeigt sich auch an diesem Abend eindrucksvoll. Obwohl nicht anwesend, ist dabei der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn überaus präsent: Zwar ist von ihm aktuell in der Villa Stuck die Ruinenskulptur "Never Give Up The Spot" zu sehen und zu begehen. Er selbst aber weilt bereits in Shanghai, wo er im Ming Contemporary Art Museum seine nächste Ausstellung vorbereitet. Die Poesieboten aus Giesing, die er bei seinem München-Aufenthalt kennen- und offenbar schätzen lernte, hat er darüber aber nicht vergessen. Als Beitrag zum Adventskalender im Giesinger Untergrund hat er einen philosophischen Text zu den flüchtigen Momenten der Grazie - im Sinne von Gnade und Schönheit - verfasst. Gewidmet ist er der französischen Philosophin und Sozialrevolutionärin Simone Adolphine Weil (1909-1943). Hirschhorn hat den Text aus China per Kurierdienst an die Villa Stuck geschickt, und Anja Schneider von der Pressestelle des Museums brachte jetzt das originale Schriftstück zur Eröffnung des Poetischen Adventskalenders mit - schließlich war dafür ja das erste Fensterl reserviert. Und so liest zunächst Marid Schaper vor, welche Gedanken sich der Schweizer zum Begriff "Grazie" gemacht hat ("Dieser Begriff zählt in meiner Arbeit und ich will immer in meine Arbeit, Kunst, Öffnungen für Grazie schneiden: Grazie (Gnade) schöpft sich - selbst - aus der Kunst heraus. Es ist die Kunst, die ermöglicht, dass Momente der Grazie entstehen. Diese Momente zeugen dafür, dass Kunst etwas bewirkt ..."). Kurz darauf befestigt Katharina Schweißguth das künstlerische Manifest ganz prosaisch mit Sprühkleber an der Plakatwand.
Ein Moment der Brechung, der typisch ist für die ganze Veranstaltung: Auf konzentriertes Zuhören, als die ersten Gedichte vorgetragen und dann auf dem Adventskalender verewigt werden, folgen anerkennender Applaus, Lachen, angeregte Gespräche. Wie meinte Katharina Schweißguth doch: Die Kunstaktion wolle inmitten des vorweihnachtlichen Trubels und der Hektik eines Sperrengeschosses entschleunigen. Dort, auf dem täglichen Weg in die Arbeit oder zum Einkaufen, könnten die Menschen drei Wochen lang miterleben, wie nur aus Worten ein gemeinsames Werk entsteht.
Manche Passanten bleiben dann tatsächlich stehen, um die Gedichte vor Ort zu lesen, andere machen ein Handyfoto, lesen unterwegs und posten es weiter. Diese kurze geistige Verschnaufpause vom Alltagstrott könne schon ein lyrisches Kopfkino auslösen. "Und wer weiß, vielleicht wird mancher Lesende selbst zum Dichten angeregt" - eine Hoffnung der Poesieboten, die sich am Mittwoch gleich erfüllt. Christine Attensperger beispielsweise, die seit 28 Jahren in Island wohnt und wegen einer Ausstellung mit Kalligrafien ihres verstorbenen Vaters Toni Attensperger zurzeit in München ist, verewigt sich auf Isländisch. Spontan tritt eine andere Frau an die Werbetafel und schreibt auf Arabisch einen Spruch in den Adventskalender. Berührend auch der "Auftritt" einer jungen Chinesin, der Geigenkasten unter ihrem Arm lässt eine versierte Musikerin vermuten: Mit glockenheller Stimme singt sie "Stille Nacht, heilige Nacht" - auf Mandarin. Verlegen erntet sie noch den verdienten Beifall, bevor sie wieder im Getümmel der Passanten verschwindet.
Währenddessen verteilt der Nikolaus kleine Schokoladenduplikate seiner selbst sowie handgeschriebene Gedichte von Maria Sperber. Aber auch ohne solche Gaben lohnt sich ein Besuch des Poetischen Adventskalenders, um dort literarische Schmuckstücke zu entdecken. Wer etwa Loriot mag, mag vermutlich auch Lothar Thiels Gedicht "Adventskannibalismus: ja, mein guter Nikolaus, jetzt hauchst du dein leben aus. schon beiß ich dir in die wade, denn sie ist aus schokolade. kurz war deiner tage glück. nur ein glöckchen bleibt zurück." In diesem Sinne: Frohe Weihnachten!