Süddeutsche Zeitung

Obergiesing:Haufenweise Hindernisse

Ein Rundgang mit einer blinden Frau und Rollstuhlfahrern zeigt auf, wie gefährlich der Tegernseer Platz für Menschen mit Behinderungen ist. Ein Teilnehmer spricht von der "brutalsten Straße" Münchens

Von Hubert Grundner, Obergiesing

Im Grunde ist es ein Armutszeugnis: ein Ärztehaus mit einem Haupteingang, der nicht behindertengerecht gestaltet ist. Angelika Ipsen hat gleich gesehen, dass eine Rampe fehlt, auf der sie mit ihrem Rollstuhl den Höhenunterschied vom Fußweg bis zur Tür überwinden könnte. Aber vielleicht, so spottet sie, sind um ein paar Hausecken herum an der Rückseite des Gebäudes irgendwo ein Eingang und ein Aufzug für Menschen wie sie versteckt. Zwar war das Haus an der Ecke von Tegernseer Platz und Silberhornstraße nicht das eigentliche Ziel, zu dem Ipsen an diesem Nachmittag aufgebrochen ist, aber es fügte sich nur zu gut ins Bild: Zusammen mit anderen Rollstuhlfahrern, Geh-, Hör- und Sehbehinderten nahm Ipsen an der inklusiven Begehung des Tegernseer Platzes teil.

Dazu eingeladen hatten Irmtraud Lechner von der Münchner Aktionswerkstatt Gesundheit (MAG's), Wolfgang Heidenreich vom Umweltverein Green City sowie Anna Canins vom Stadtteilladen Giesing. Einer, der dieser Offerte gerne nachgekommen ist, ist Günter Fieger-Kritter. Der Rollstuhlfahrer ist Mitglied im Münchner Behindertenbeirat und engagiert sich insbesondere im Arbeitskreis Mobilität. "Der Tegernseer Platz ist eine Katastrophe", legt er gleich los. Das größte Problem - sicher nicht nur für körperlich eingeschränkte Menschen - sei die Geschwindigkeit des Verkehrs. Für ihn ist es unverständlich, dass 50 Stundenkilometer erlaubt sind. Stattdessen, findet er, sollte es am Platz eine Tempo-20-Zone geben.

Ein weiterer Vorschlag Fieger-Kritters: Das Trambahn-Gleis sollte begrünt, hohe Schwellen an den Übergängen eingeebnet werden. Außerdem müsste es mehr und bessere Querungsoptionen für Menschen mit Gehbehinderung geben. Fieger-Kritters Urteil über die Verkehrsverhältnisse lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: "Es ist eine der brutalsten Straßen, die ich in München kenne." Im Grunde sieht er fast nur eine Lösung: Der motorisierte Individualverkehr müsste radikal beschnitten werden. Warum dann am Tegernseer Platz bis heute alle "schwächeren" Verkehrsteilnehmer das Nachsehen haben? "Es liegt an den Auto-Fraktionen im Stadtrat", sagt Günter Fieger-Kritter.

Unterdessen haben sich die ersten Teilnehmer der inklusiven Begehung schon in Marsch gesetzt. Von der Tela-Post geht es zunächst bis vor die Einmündung der Werinherstraße; dann auf die andere Seite des Tegernseer Platzes, wo an der Ecke die Ichostraße beginnt. Den Korridor dazwischen befahren Autos, Busse und Trambahnen in dichter Folge. Ein akustisches Signal, an dem sich Sehbehinderte orientieren könnten, hat die Fußgängerampel nicht. Weshalb die blinde Gabriele Roßmaier jedes Mal zu einem größeren Umweg gezwungen ist: Da ihr der direkte Weg zur Ichostraße verwehrt ist, läuft sie normalerweise erst bis zum U-Bahn-Eingang am anderen Ende des Platzes, um ihn unterirdisch zu queren. Wieder an der Oberfläche muss sie dann die gleiche Strecke zurück bis zur Ichostraße gehen.

Auf der Platzseite mit den Bushaltestellen zeigen sich dann auch weitere Gefahrstellen. So fehlt ein Leitsystem für Sehbehinderte in der Längsrichtung des Gehsteigs. Blinden wie Gabriele Roßmaier bleibt zur Orientierung deshalb kaum etwas anderes übrig, als sich mit dem Gehstock an der Bordsteinkante entlang zu tasten - wo dann in nächster Nähe und oft mit Karacho die Busse an ihr vorbeifahren. Eine Unachtsamkeit, ein falscher Schritt, und ein Unglück ist geschehen.

Auch das Einsteigen stellt Roßmaier oft vor große Probleme: Meist halten die Busse exakt vor der weißen Stopp-Linie auf dem Asphalt. Die vordere Bustüre ist dann aber drei, vier Meter entfernt von den senkrecht zur Straße bis zur Bordsteinkante verlegten Riffelplatten. Sehbehinderte müssen jedoch davon ausgehen können, dass von den Riffelplatten über die finale Noppenplatte der Bus direkt zu besteigen ist. Leider steht aber nicht nur der Bus falsch, auch die Noppenplatte fehlt.

Und so umrundet der kleine Tross einmal den Tegernseer Platz, während Wolfgang Heidenreich und die Praktikantinnen Tamara Hartmann und Antigone Drosouni die Anregungen und Kritikpunkte protokollieren. Eine Zusammenfassung der Begehung, erklärt Irmtraud Lechner, soll an den Bezirksausschuss Obergiesing-Fasangarten weitergeleitet werden. Natürlich verbindet sie damit die Hoffnung, dass bei der bevorstehenden Umgestaltung dieser Verkehrsdrehscheibe die Belange körperlich behinderter oder in ihrer Mobilität eingeschränkter Menschen dann auch berücksichtigt werden.

Das dürfte ganz im Sinne von Gabriele Roßmaier sein. Die blinde Frau lebt seit 2009 in Giesing. Auf dem Weg zu ihrer Bank muss sie vom Tegernseer Platz kommend die Werinherstraße überqueren. Eine blindengerechte Ampel fehlte an der Stelle früher, also beantragte sie eine. Danach dauerte es, so erzählt sie es, sechs Jahre, bis die Anlage installiert war. Die jetzt angemahnten Verbesserungen dürfen gerne etwas schneller kommen.

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Quelle:
SZ vom 29.09.2018
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