Süddeutsche Zeitung

Obergiesing:Ehrung für eine Aufrechte

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Auf dem Agfa-Gelände in Giesing befand sich im Zweiten Weltkrieg eine Außenstelle des Konzentrationslagers Dachau. Mit der Benennung eines Platzes nach der Häftlingsärztin Ella Lingens wollen die Grünen an das Schicksal der Zwangsarbeiterinnen erinnern

Von Hubert Grundner, Obergiesing

Der 17. Februar 2008 war ein strahlend schöner, klarer Wintertag. Und so wurde neben Tausenden Giesingern auch die Sonne Zeuge, wie an jenem Sonntag kurz nach 12 Uhr das Agfa-Hochhaus gesprengt wurde. Innerhalb weniger Sekunden fiel das einstige Wahrzeichen des Viertels in sich zusammen, während eine riesige Staubwolke aufstieg und den Ort des Geschehens verschluckte. Wenig später begannen die Arbeiten an dem neuen, schicken Wohnviertel, das inzwischen fast fertiggestellt ist. Weithin sichtbar steht nun der weiße Tower, in dem das Motel One untergekommen ist, als neue Landmarke an der Tegernseer Landstraße.

Der Verschwinden des Traditionsunternehmens Agfa war für viele Giesinger, die hier Arbeit gefunden hatten, schmerzlich. Städtebaulich hingegen überwogen die Vorteile einer Überplanung und Neubebauung des Firmengeländes. Denn das Areal war früher fast hermetisch abgeschlossen und zwang Fußgänger, Rad- und Autofahrer zu weiten Umwegen. Die Aussicht auf ein stattdessen durchlässiges, grünes Quartier mit vielen neuen Wohnungen hatte deshalb vom Stadtrat bis zum Bezirksausschuss alle Parteien überzeugt.

Nur eines sollte nicht passieren: Die Geschichte, insbesondere deren dunkle Seiten, die mit den Agfa-Camerawerken verbunden sind, sollte nicht verloren gehen wie das Hochhaus. Dafür setzen sich seit Jahren vor allem die Grünen in Giesing ein. Sie wollen in dem Quartier einen Platz entsprechend benennen. Denn wo sich heute eine - vermutlich - zahlungskräftige Klientel ihre Eigentumswohnungen gesichert hat, schufteten während des Zweiten Weltkriegs Hunderte Zwangsarbeiterinnen buchstäblich um ihr Leben. "Vernichtung durch Arbeit" nannten die Nationalsozialisten dieses Programm. Letztlich zielte darauf auch die Beschäftigung im "Außenkommando Agfa-Camerawerk" des Konzentrationslagers Dachau.

Die Frauen, die aus verschiedenen europäischen Ländern stammten und an der Weißenseestraße interniert waren, mussten in Giesing beispielsweise Teile für die Raketen V1 und V2 sowie Zünder für Flak-Granaten herstellen. Und je deutlicher sich das Ende des Dritten Reiches abzeichnete, desto mehr wurde in der Fabrik das Arbeitstempo erhöht, die Überwachung verschärft. Die Frauen hatten zwölf Stunden und länger zu arbeiten, wenn sie die vorgebene Norm nicht erfüllten. Gleichzeitig wurde die Verpflegung reduziert. Die Zwangsarbeiterinnen mussten mit zwei Scheiben Brot und zwei Schüsseln Suppe am Tag auskommen. Wobei die Suppe aus lauwarmem Wasser mit einigen Karotten-Schnitzen oder Kohlblättern bestand. Wie katastrophal die Ernährung war und wie verzweifelt die Frauen waren, zeigt ein besonderer Zwischenfall: Am 12. Januar 1945 traten die Arbeiterinnen, nachdem sie wegen Fliegeralarms wieder einmal nichts zu essen bekommen hatten, spontan in den Streik und legten die Arbeit nieder. Sei es, weil sie Frauen waren, sei es, weil ihre Courage ihre Peiniger beeindruckte: Sie wurden nicht erschossen, die Firmenleitung senkte den Arbeitsdruck etwas, und auch das Essen wurde etwas genießbarer. So haben nach dem Krieg Holländerinnen, die den Lageraufenthalt überlebt hatten, die Zustände in Giesing geschildert.

Mit und unter ihnen überlebte auch Ella Lingens, die als Häftlingsärztin die circa 500 Zwangsarbeiterinnen des Agfa-Camerawerks betreute. Womit der Bogen in die Gegenwart geschlagen wäre: Die Grünen möchten einen Platz nach Ella Lingens benennen. Aus diesem Grund luden sie jetzt die Historikerin Sabine Schalm in den Bezirksausschuss Obergiesing-Fasangarten ein. Dort zeichnete die wissenschaftliche Mitarbeiterin des NS-Dokumentationszentrums, die über die Geschichte der KZ-Außenlager promoviert hat, das beeindruckende Porträt eines kompromisslos hilfsbereiten Menschen. Der Beistand, den sie und ihr Mann vielen von Deportation und Tod bedrohten Juden gewährten, führte sie - selbst inhaftiert - in die Konzentrationslager Auschwitz, Dachau und schließlich nach Giesing.

Falls im BA Zweifel bestanden haben sollten, ob die Ärztin als Namensgeberin geeignet ist, dürften diese nach dem Vortrag bei der Mehrheit der Zuhörer zerstreut gewesen sein. Sabine Schalm jedenfalls befand regelrecht euphorisch: "Sie haben mit Ella Lingens hier in Giesing unglaubliches Glück." Ihre Biographie sei gut aufgearbeitet und biete sich für eine nachhaltige Vermittlung dieses grausamsten Aspektes des Nationalsozialismus an. "Ella Lingens steht für humanitär vermittelte Hilfe", sagte Schalm. Und überhaupt, so fügte sie hinzu, werde noch zu wenig an die Verbrechen der Zwangsarbeit erinnert.

Möglicherweise wird ja dieses Versäumnis 70 Jahre nach Kriegsende behoben, indem man einen Platz nach der selbstlosen Ärztin benennt. Dafür in Frage kommt im Grunde nur ein Ort neben dem Sozialbürgerhaus Giesing-Harlaching, das vor kurzem an der Werner-Schlierf-Straße 9 eingezogen ist. Allerdings sind von den anderen Fraktionen, so ist zu hören, zwei weitere Namen ins Spiel gebracht worden. Dabei soll es sich zum einen um eine engagierte Gewerkschafterin handeln, die bei dem Kamerahersteller arbeitete. Zum anderen wurde angeblich eine renommierte Fotografin vorgeschlagen. Laut BA-Vorsitzender Carmen Dullinger-Oßwald (Grüne) wird das Gremium im nichtöffentlichen Teil seiner Mai-Sitzung über die drei "Namenspatinnen" beraten und eventuell bereits entscheiden. Das letzte Wort hätte im Anschluss dann der Ältestenrat der Stadt.

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SZ vom 25.04.2015
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