Süddeutsche Zeitung

Obergiesing:Adventliche Poesie

Auf einem Großplakat im U-Bahnhof Silberhornstraße entsteht bis Weihnachten wieder ein lyrisches Gesamtkunstwerk

"Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß, wie Wolken schmecken." Dieser Vers aus einem Song der Siebzigerjahre-Rock-Band Novalis vermittelt: Poesie ermöglicht, die Realität auf eigene schöpferische Weise wahrzunehmen. Genau dazu lädt das Großflächenplakat in der Schalterhalle der Giesinger U-Bahnstation Silberhornstraße schräg gegenüber vom Lift ein. Von Donnerstag, 3. Dezember, bis Samstag, 26. Dezember, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, füllt sich hier täglich eines der 24 freien Felder mit frischer Lyrik, von einem Poeten oder einer Poetin des Poesiebriefkastens selbst ersonnen und mit der Hand hineingeschrieben.

Bei der Untergrund-Aktion ist heuer unter anderen der Giesinger Schriftsteller Friedrich Ani mit dabei, er füllt laut Ankündigung das erste Fenster des Kalenders. Vielen Lesern ist Ani wegen seiner spannenden Krimis bekannt, hier zeigt er seine poetische Seite. Die 28-jährige belarussische Autorin und Übersetzerin Volha Hapeyeva aus Minsk weilt zurzeit als "artist in residence" in der Künstlervilla Waldberta der Stadt München. Sie trägt eines ihrer berührenden Gedichte nicht nur auf Deutsch, sondern auch auf Belarussisch in kyrillischer Schrift in den Kalender ein. Die Bürgerinitiative Heimat Giesing fasst ihr Engagement für den Wiederaufbau des Uhrmacherhäusls in poetische Zeilen. Und mit einem Gedicht verabschiedet sich Stadtteilmanager Torsten Müller. Fünf Jahre lang brachte er vom Stadtteilladen an der Tegernseer Landstraße 113 aus viele Projekte mit auf den Weg und förderte dabei die Vernetzung im Viertel. Auch die Passanten können ihre Gedanken und Gedichte in die vorhandenen "Freifensterl" eintragen oder etwas dazu kleben oder zeichnen.

Den poetischen Adventskalender veranstaltet der Verein Poesieboten bereits zum vierten Mal. Ziel der Kunstaktion war es von Beginn an, inmitten des vorweihnachtlichen Trubels und in der Hektik eines U-Bahn-Sperrengeschosses zum Innehalten anzuregen. Zwischen den Dichtenden und den Passanten entwickelten sich häufig lebhafte Gespräche. Solche können heuer, wenn überhaupt, nur mit Abstand stattfinden. Doch alle, die möchten, können über den Adventskalender schreibend und lesend miteinander kommunizieren. Auf dem täglichen Weg in die Arbeit oder zum Einkaufen können die Menschen, die ab und zu kurz vor der Wandtafel innehalten, drei Wochen lang miterleben, wie ein gemeinsames Werk entsteht, und ein paar poetische Gedanken mit nach Hause nehmen.

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SZ vom 02.12.2020 / SZ
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