Steigende Obdachlosigkeit in München:Draußen vor der Tür

Jung, geschieden, ohne Ausbildung: Mit den steigenden Mieten in München ändert sich auch das Gesicht der Obdachlosigkeit. Sie trifft viele heute schneller als früher - im reichen München ist die Zahl der Wohnungslosen in den vergangenen Jahren rapide gestiegen.

Anja Perkuhn

Der Filterkaffee ist heiß, der Raum angenehm warm, "Café" steht auf einem Zettel an der Tür. Trotzdem tragen alle Männer an den Tischen und an der Theke dicke Jacken, halboffen, wie in einem Wartezimmer. Sie warten darauf, dass sie einen Ort bekommen, an dem sie ihre Jacke aufhängen, den sie kurz so etwas wie ihr Zuhause nennen können. Die Bettenmarken sind schon ausgegeben, um 14 Uhr dürfen sie auf die Zimmer. Zweibettzimmer sind es, "früher war es schlimmer", sagt einer am Ende der Theke, "da waren es Vier- oder Sechsbettzimmer".

Obdachloser

Auf der Straße, wie hier vor einem Geschäftseingang, suchen sich wieder mehr Obdachlose einen Schlafplatz, weil in den Notquartieren kaum ein Platz frei ist.

(Foto: dpa)

Und besser als nichts ist es sowieso, da sind sich alle einig, die auf ein Zimmer im Städtischen Unterkunftsheim an der Pilgersheimer Straße warten. "Eine Etage drunter ist dann die Platte", sagt Frank. Er hat seine Jacke an den Fensterriegel gehängt, denn er steht hinter der Theke des "Café Bleifrei" und schenkt den Kaffee aus, zusammen mit Stefan. Sie saßen beide auch einmal auf der anderen Seite, haben auf ein Zimmer gewartet und waren nur einen Schritt entfernt von der Platte - von der Obdachlosigkeit, dem Leben auf der Straße.

Wohnungslos sind in München im Dezember 2438 Menschen gewesen, sie waren im Notunterbringungs-System registriert. Im Umland sind es weniger - Wohnungslose zieht es, wie Experten sagen, tendenziell in die Großstadt. Ein Jahr zuvor waren es 2035 Wohnungslose in München - die Steigerung nennt das Sozialreferat eine "ausgesprochen beunruhigende Entwicklung", die mit der Entwicklung des Wohnungsmarktes zu tun habe.

München hat zugleich bundesweit eines der besten weil ausdifferenziertesten Hilfesysteme. Es gibt viele weiterführende Angebote und Beratung bei drohender Wohnungslosigkeit, aber auch kurzfristiges Obdach in Teestuben, Clearinghäusern, Notunterkünften. Viele sind untergebracht in Pensionen oder betreuten Wohnheimen - auf einer Art Zwischenstation vor der eigenen Wohnung, meist einer Sozialwohnung.

Wohnungs- und obdachlose Menschen müssen sich allerdings auch in dieses System begeben, müssen Bürokratie wie die Ausgabe von Bettenmarken annehmen und Hausordnungen beachten. "Frei gewählt ist das Leben auf der Straße nie", sagt Franz Herzog vom Evangelischen Hilfswerk München. Wer obdachlos ist, hat meist nicht einfach Arbeit und Wohnung verloren, sondern auch eine psychische Erkrankung, ist alkohol- oder drogenabhängig - und hat Furcht, wieder zu scheitern. "Wenn Sie auf der Straße leben, geht's nicht mehr drunter und wegnehmen kann Ihnen niemand mehr was."

Beunruhigende Entwicklung

Herzog ist Leiter der Teestube "komm". Deren Streetworker sprechen Menschen an, die in Schlafsäcken auf Bänken, in Hauseingängen, unter Brücken leben. Sie gelten per Definition nicht als Wohnungslose, sondern als Obdachlose. 339 hat die Arbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe München und Oberbayern vor fünf Jahren in der Landeshauptstadt gezählt; 1995 waren es 607. Genaue aktuelle Zahlen gibt es nicht, denn dies sind ja die Menschen, die sich nicht verbindlich anmelden.

Dazu, schätzt Herzog, kämen mindestens noch einmal so viele vor allem jüngere Menschen zwischen 22 und Anfang 30, die jahrelang bei wechselnden Freunden und Bekannten nächtigen, bis sie auch aus diesem System fallen. "Viele die wir kennen, haben so angefangen." Und dann ist es oft die Scham oder die gefühlte Unfähigkeit, sich wieder in die Gesellschaft einzufügen, die sie in der Obdachlosigkeit verbleiben lässt.

Frank trocknet im "Bleifrei" ein paar weiße Tassen ab, während die Männer auf die Zimmer warten. Er ist in den vergangenen Jahren ein paar Mal im Gefängnis gewesen, nichts Schlimmes, sagt er, es ging um Geldstrafen. Als er wieder rauskam, haben sie ihn in der Pilgersheimer Straße einquartiert. "Aber da bin ich gleich wieder raus und unter die Brücken", erzählt er. "Hier drin kam es mir auch vor wie ein Gefängnis."

Lange hat er es draußen nicht ausgehalten, es war Winter, es war kalt. Er kam zurück, jobbt hier nun, inzwischen ist er auf dem Sprung zur eigenen Wohnung. Etwa die Hälfte der Männer schaffen das, sagen sie hier im Café. "Das wäre schön", sagt Gerhard Baier, der Leiter des Heims. "Aber es sind wohl eher ein Drittel."

Baier arbeitet seit 1973 für die Einrichtung. "Der Münchner Wohnungsmarkt hat schon immer ein Problem", sagt er, deshalb habe es schon immer Wohnungslosigkeit gegeben. "Aber die Strukturen und die Leute haben sich geändert." Den Tippelbruder, der auf verschlungenen Wegen von Hamburg nach München kommt, gebe es nicht mehr, seit viele Kommunen sich dem Problem Wohnungslosigkeit geöffnet haben, seit es Jobcenter in jeder größeren Gemeinde gibt und jeder soziale Leistungen direkt dort beziehen kann, wo er sich befindet. Zugleich gibt es immer mehr Migranten unter den Wohnungslosen, 45 Prozent sind es im Unterkunftsheim bereits. "Die Wanderbewegungen finden jetzt in ganz Europa statt", sagt Baier.

Und auch die Gründe für Wohnungslosigkeit wandeln sich ständig. "Der klassische Fall, bei dem der Verlust der Arbeit oft mit dem Verlust der Wohnung einhergeht, bleibt bestehen", sagt Johannes Denninger vom Münchner Straßenmagazin Biss. Es kämen aber neue Wege dazu: "Es trifft die Jungen, weil der Wohnraum für Jugendliche extrem knapp ist. Die Alten, die ihre Arbeit verlieren und vielleicht noch ein psychisches Problem haben. Den Geschiedenen mit Alkoholproblem.

Diejenigen mit schlechter Ausbildung, weil kaum jemand mehr Saisonarbeiter braucht." Früher, sagt Denninger, habe es viel mehr Schwellen zu überschreiten gegeben, bis jemand wirklich obdachlos war, die Familienstrukturen fingen sehr viel auf. "Die Geschwindigkeit hat zugenommen, in der alles geschieht. Das verstärkt den Druck."

Aus der kleinen Anlage in der "Bleifrei"-Küche schallt ein Lied der Band Zweiraumwohnung. Zynisch? Stefan grinst. "Wieso? Passt doch." Der Mann vom Ende der Theke ergänzt: "Den Humor darf man nicht verlieren. Einmal, da habe ich ihn verloren. Da bin ich dann einfach umgedreht und habe ihn gesucht. Jetzt habe ich ihn wieder." Dann geht er, um seine Jacke aufzuhängen.

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