Obdachlosigkeit:"Das ist eine Parallelwelt"

Obdachlosigkeit: Fünfmal am Tag gibt es zu essen und zu trinken, Brot mit Margarine und mit Schmalz, Kräutertee, Früchtetee. Manchmal Apfelschnitze. Manchmal spendet jemand Butter, so wie an diesem Tag.

Fünfmal am Tag gibt es zu essen und zu trinken, Brot mit Margarine und mit Schmalz, Kräutertee, Früchtetee. Manchmal Apfelschnitze. Manchmal spendet jemand Butter, so wie an diesem Tag.

(Foto: Catherina Hess)

In der Bahnhofsmission landen jene Menschen, die anderswo nicht mehr aufgefangen werden - und von denen viele nicht einmal wissen. Ein Besuch.

Von Anna Hoben

Er sieht müde aus, aber er lächelt. Am Morgen ist er in München angekommen, der Bus ist die Nacht durchgefahren, 15 Stunden, von Kroatien nach München. Der Mann nennt sich Kleber, irgendjemand hat ihm mal den deutschen Spitznamen verpasst. Heute ist sein Geburtstag, aber wie alt er wird, will er nicht verraten. Da sei er wie die Frauen. "Warum ist die Erde weiblich?", fragt Kleber. "Weil niemand ihr richtiges Alter weiß." Mal schätzen also: 50 vielleicht. Ist aber auch egal.

Viel wichtiger ist, dass er schon ein bisschen gefeiert hat heute, mit Sliwowitz. Viel wichtiger ist, dass seine Gitarre neben ihm an der Bank lehnt. Zwei Wochen will er bleiben, Straßenmusik machen, die Münchner sind großzügig, in der Adventszeit geben sie manchmal 20 Euro und manchmal sogar noch Zigaretten und eine Flasche Bier dazu.

Noch viel wichtiger ist die Frage, wo er in dieser Nacht schlafen wird. Kleber zuckt mit den Schultern. Sein Kumpel hat gesagt, er wisse vielleicht jemanden, bei dem er pennen kann. Erst mal ist er hierher gekommen: in die Bahnhofsmission. Um etwas zu essen. Und um seinen Kumpel zu treffen, einen Landsmann.

Jeder Mensch braucht ein Wohnzimmer. Aber nicht jeder hat eine Wohnung. Für all diese Menschen ist die Bahnhofsmission, Hauptbahnhof, Gleis 11, wie ein Wohnzimmer. Fünfmal am Tag gibt es zu essen und zu trinken, Brot mit Margarine und mit Schmalz, Kräutertee, Früchtetee. Manchmal Apfelschnitze. Manchmal spendet jemand Butter, so wie heute. Es ist ein Glückstag, jemand hat sogar ein großes Glas Leberwurst vorbeigebracht.

Klebers Kumpel will Johnny genannt werden, er ist jünger, Mitte 30 vielleicht. Seit einem Jahr ist er in München, er hätte gern einen Job, "Tellerwäscher" ist eines der wenigen deutschen Wörter, die er kennt. Johnny sagt, er lebe in einem Zelt im Wald, irgendwo am Stadtrand. "Die Leute sind verrückt, 500 Euro für ein Zimmer auszugeben." Er schlafe gern im Zelt, auch im Winter. Ein guter Mensch hat ihm eine gute Matratze geschenkt, sauber ist sie und stinkt nicht, auch einen warmen Armeeschlafsack besitzt er.

Draußen tost der Reiseverkehr, drinnen herrscht Gewusel. In der Küche schmieren ehrenamtliche Helfer Brote, 300 Kilogramm gehen jede Woche über die Theke. Sobald die Essensausgabe beginnt, sind innerhalb von Sekunden alle Plätze an den Holztischen besetzt. Drei Männer schlafen, die Köpfe auf der Tischplatte. Einer schnarcht. Ein junger Mann schüttet löffelweise Zucker in seine Teetasse.

Hinterm Tresen steht Hildegard Müller, 70 Jahre alt, eine von 135 ehrenamtlichen Helfern. Sie muss jetzt mal kurz was notieren, der Mann im grauen Kapuzenpulli möchte gern zur Beratung. Keiner muss gleich seinen Namen sagen, Müller überlegt also, "Hotty oder Hoodie, wie heißt das?" Auf die Warteliste kritzelt sie das Symbol für "männlich", daneben schreibt sie: "graues Hoody".

Obdachlosigkeit: Ehrenamtliche Helfer schmieren Brote und schenken Getränke aus.

Ehrenamtliche Helfer schmieren Brote und schenken Getränke aus.

(Foto: Catherina Hess)

Hildegard Müller hat früher als Erzieherin bei der Stadt gearbeitet, heute ist sie eine dieser Rentnerinnen, die immer beschäftigt sind, nicht für sich, sondern für andere, ein fröhlicher Mensch. Sie sagt: "Die Bahnhofsmission ist der spannendste Ort in ganz München." Christina Vesselinova, 63, aus Bulgarien, studierte Romanistin und Theologin, seit sieben Jahren hauptamtlich bei der Bahnhofsmission, sagt: "Das ist eine Parallelwelt, die Leute wissen gar nicht, dass es so etwas gibt. Ich wusste es auch nicht."

"Das gibt einem hier so einen Frieden"

Eine Praktikantin, Studentin der sozialen Arbeit, sagt: "Das gibt einem hier so einen Frieden." Draußen im Flur wird gerade herzlich gelacht. Lachen ist wichtig. Regelmäßiges Lachen ist sogar sehr wichtig, wenn man den ganzen Tag traurige Geschichten hört.

Als einen "Seismograf, der mit ganz feiner Nadel die Veränderungen im sozialen Gefüge der Stadt feststellt", hat jemand einmal die Bahnhofsmission bezeichnet. In der Einrichtung, die von der evangelischen und der katholischen Kirche gemeinsam getragen wird, zeigt sich im Kleinen, was sich im Großen verändert. Hier landen jene, die anderswo nicht mehr aufgefangen werden. Sehr unterschiedliche Menschen seien das, sagt Bettina Spahn, eine der beiden Leiterinnen. Als die EU-Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen startete, kamen viele Osteuropäer, "was neu ist, landet immer erst mal bei uns".

Aber 2017 war es "eine ganz große Mischung". Wohnungslose, die sie an die richtigen Stellen weitervermitteln. Rentner, bei denen das Geld nicht reicht und die nach Brot fragen. Immer mehr Familien, Frauen mit Kindern. Die Spenden aus dem SZ-Adventskalender helfen, in Notlagen schnell und unbürokratisch Hilfe zu leisten, mit Fahrkarten oder einem Einkaufsgutschein. Wenn Bettina Spahn vom Schreibtisch aufschaut, geht ihr Blick auf ein Fünf-Sterne-Hotel. Die Kontraste liegen in München oft nah beieinander. Vor Kurzem haben sie einen Tausch gemacht, die Mitarbeiter der Bahnhofsmission frühstückten im Hotel, die Hotelleute arbeiteten einen Tag in der Bahnhofsmission. Drei blieben, als Ehrenamtliche.

Auf der Bank im Flur sitzen immer noch die Kroaten. Manchmal ist die Bank ein Ort zum Träumen. Kleber erzählt von seinem Plan. Der Plan geht so, dass er sich ein gebrauchtes Auto kauft und damit durch Europa fährt. Musik machen, heute hier, morgen dort. Und dann nach Indien, er ist ein Anhänger von Hare Krishna. Denkt er an seinen Plan, ist Kleber in Harmonie mit der Welt. "Alles ist gut", sagt er.

Obdachlosigkeit: Drinnen herrscht ein bisschen Ruhe. Menschen schalten ab, schlafen an Tischen.

Drinnen herrscht ein bisschen Ruhe. Menschen schalten ab, schlafen an Tischen.

(Foto: Catherina Hess)

"Alles ist gut", wiederholt ein dünner, kleiner Mann mit strähnigen Haaren, der ein paar Meter weiter auf der Bank sitzt. Kaum hörbar. Dann, lauter: "Scheiße ist gut." Pause. "Nix ist gut." Pause. "Gar nix ist gut." Er haut sich mit der flachen Hand gegen den Kopf. Die Bank ist manchmal ein Ort zum Träumen. Häufiger ist sie ein Ort zum Verzweifeln. Er ist jetzt dran, der dünne Mann. Beratungszimmer.

Hinter dem Schreibtisch sitzt Jessica Wolf, 26 Jahre, Studium der sozialen Arbeit. Der Mann mit den tätowierten Spinnweben auf der Hand setzt sich auf den Stuhl ihr gegenüber und stellt einen großen Beutel Tabak auf den Tisch. Sie muss gar nicht fragen, er legt gleich los: "Mein Problem ist, wo übernachte ich heute." Vergangene Nacht war er im Kälteschutz in der Bayernkaserne, aber "das ist nicht mehr". - "Gefällt ihnen nicht?", fragt Jessica Wolf. "Ich gefall' denen nicht." Papiere habe er keine, sagt der Mann, "seit Neunzehnhundertleckmichamarsch", aus dem Männerwohnheim sei er kürzlich rausgeflogen. Und davor? "Zuchthaus."

SZ-Adventskalender

Zurzeit haben fast 9000 Menschen in München keine Wohnung. Waren es in den früheren Jahren meist Männer, sind mittlerweile viele Familien betroffen. Einrichtungen, die sich um Wohnungslose kümmern, benötigen Unterstützung - ihnen will der SZ-Adventskalender helfen.

Jessica Wolf überlegt, außer dem Kälteschutz gibt es nur noch die Heilsarmee, und die steht nur Schwerkranken offen. Krank sei er, sagt der Mann, schließlich habe er ein Alkoholproblem. Er zieht eine Flasche billigen Rum hervor. "Sehen Sie die Prozentzahl? Richtiges Scheißzeug ist das." Er schaffe das allein, er trinke schon nicht mehr drei, sondern eine Flasche am Tag. "Und den Rest schaff' ich auch. Ich will nicht mehr, ich hab' die Schnauze voll."

Es ist nur so, dass das Alkoholproblem nicht zählt für die Heilsarmee. Und deshalb, so bringt Jessica Wolf es dem Mann nun bei, gibt es heute keine andere Möglichkeit als den Kälteschutz. Sie bietet ihm an, am nächsten Tag mit ihm beim Wohnungsamt anzurufen. Der Mann, eben noch aggressiv, schaut nun sehr unglücklich drein. Sie tue ihr Bestes, versichert Jessica Wolf. Und er sagt leise: "Ich glaube dir." Wenn er am nächsten Tag kommt: gut. Wenn er nicht kommt, sagt Wolf, auch in Ordnung. "Wir sind da."

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