OB-Kandidatin Sabine Nallinger:Quereinsteigerin mit Aufstiegswillen

Sabine Nallinger

Auf ihre politischen Schwächen angesprochen, sagt Nallinger, dass sie "nicht in jeder Zahl drin" sei.

(Foto: Stephan Rumpf)

In Sabine Nallingers Familie wurde die FDP gewählt, sie selbst bewunderte Willy Brandt. Als sie nach München kam, erlebte sie einen Kulturschock. Nun möchte die Grüne als erste Frau die Stadt regieren.

Von Silke Lode

Frauen im Beruf - das war für Sabine Nallinger schon sehr früh im Leben ein Thema. Die gebürtige Stuttgarterin hat ihren Vater bei einem Unfall verloren, als sie vier Jahre alt war. Die Mutter hat dann zwar den Fruchtgroßhandel der Nallingers übernommen, musste aber feststellen, dass sie in Spanien und Nordafrika als Verhandlungspartnerin nicht ernst genommen wurde. "Dafür wurden dann zwei Männer eingestellt", erzählt Nallinger. "Dass eine Frau im Beruf nicht ernst genommen wird - das war bei uns zu Hause schon Thema."

Sabine Nallinger hat mit Männerdomänen keine Berührungsängste. Seit mehr als 850 Jahren wird München von Männern regiert, jetzt gehört sie als Kandidatin der Grünen neben Dieter Reiter (SPD) und Josef Schmid (CSU) zum chancenreichen Trio für die Oberbürgermeisterwahl.

Die 50-Jährige, die mit ihrem Partner und ihren zwei Töchtern in Sendling-Westpark lebt, ist eine politische Quereinsteigerin. Dem Stadtrat gehört sie erst seit sechs Jahren an. Es sind wohl gerade ihre Erfahrungen jenseits der Politik, die Nallinger helfen, nicht in Machbarkeitszeiträumen von sechs Jahren zu denken, sondern auch visionäre Gedanken zu entwickeln. Nallinger, bekennender Stadtfan, ist umgeben von anderen umtriebigen Stadtmenschen aus den Kreisen der Urbanauten, von Isarlust oder Green City. Sie hat den Carsharing-Anbieter Stattauto und die Solarinitiative München mitgegründet. Als Stadtplanerin kennt sie die Privatwirtschaft ebenso wie das Planungsreferat, seit elf Jahren ist Nallinger bei der Münchner Verkehrsgesellschaft für Projekte im Bereich Forschung und Entwicklung zuständig.

Noch nicht ganz ausgegoren

Als die Grünen vor zwei Jahren parteiintern auf die Suche nach ihrem OB-Kandidaten gingen, löste Nallinger mit ihren Ideen und ihrer Begeisterung nicht nur frischen Wind, sondern einen regelrechten Sturm aus, der ihre Konkurrenten hinwegfegte. Sie verkündete, dass sie das Wohnungsproblem angehen wolle, indem 30 Prozent aller Mietswohnungen bis zum Jahr 2030 im Besitz der Stadt oder von Genossenschaften sein sollen. Sie entwarf Pläne für eine autofreie Innenstadt und schlug vor, die Stellplatzsatzung anzutasten, da Parkplätze neue Wohnungen noch teurer machen.

Erbost schaltete sich die SPD ein und hielt Nallinger vor, die rot-grüne Bilanz schlechtzureden. Auch Hep Monatzeder, ihr schärfster parteiinterner Konkurrent, versuchte, ihre Pläne als Träumereien abzutun. Ein Vorwurf, der bis heute zu hören ist: "Konzeptionell sind ihre Ideen noch nicht ganz ausgegoren", sagt etwa Dieter Reiter. Nallinger kontert, Reiter habe keine Ideen. Ein einfaches "Weiter so" reiche nicht. Auf ihre Schwächen angesprochen, kommt Nallinger von sich aus darauf zu sprechen, dass sie "nicht in jeder Zahl drin" sei. Aber das sei nicht Aufgabe eines Oberbürgermeisters: "Da gibt es viele Leute, die einem zur Seite stehen. Ein OB muss Prioritäten setzen, das mache ich im Vergleich zu meinen Mitwerbern jetzt schon."

Dass es Sabine Nallinger weder an Selbstbewusstsein noch an Gestaltungswille mangelt, bekam bisher vor allem der prominente Dritte Bürgermeister Hep Monatzeder zu spüren. Als die grüne Basis im Juli 2012 nach den öffentlichen Vorstellungsrunden über ihren OB-Kandidaten abstimmte, gewann Nallinger mit mehr als 60 Prozent klar. Auf das frühe Ideenfeuerwerk folgte allerdings eine schwache Phase, Schmid und Reiter hatten in der Flaute kein Problem, an ihr vorbeizuziehen.

München war ein Kulturschock

Ihre Jugend hat Nallinger in Stuttgart verbracht, früh begann sie, den eigenen Weg zu suchen. Mit ihrer Familie focht sie politische Differenzen aus: die Bewunderin von Willy Brandt konnte nicht verstehen, warum ihre Mutter, ihre Onkel und Tanten FDP wählten. Nallinger lebte in einer anderen Welt: Mit 13 leitete sie als erstes Mädchen beim CVJM eine Jugendgruppe. Sie liebte Sport, organisierte Kanu- und Radlfreizeiten und Nachhilfe für die Kinder der Boat-People aus Vietnam. Sie war bei den ersten Treffen der Grünen dabei, die sich damals in Baden-Württemberg gründeten. Die ersten Berührungen mit der Parteipolitik fand sie aber eher abschreckend: "Wir wollten für autonome Jugendzentren kämpfen, aber bei jedem Treffen wurde erst mal eine Stunde diskutiert, ob und wo heute geraucht werden darf", erinnert sich Nallinger. Sie ging zurück auf die Straße, demonstrierte mit der Friedensbewegung und landete nach einer Blockade des Oberkommandos des US-Militärs (EUCOM) sogar in Untersuchungshaft.

Nach dem Abitur zog sie in eine WG, ihre Berufswünsche reichten von Meeresbiologie bis zu Musikpädagogik. Ein Jahr lang suchte sie ihre Richtung, arbeitete an einer Körperbehindertenschule und mit jungen Männern, die eine Gefängnisstrafe hinter sich hatten. Dann traf sie die Entscheidung: Es sollte nach München gehen, für ein Studium der Umwelt- und Stadtplanung. "Das war ein Kulturschock", erinnert sich Nallinger. Im München Peter Gauweilers kamen sie und ihre Freunde fast jeden Abend in eine Razzia. Sie fanden keine Wohnung und schliefen im VW-Bus, den sie demonstrativ vor der Uni parkten. Einige der Professoren an der LMU waren so offenkundige Altnazis, das Nallinger nach einem Semester an die TU wechselte.

Den Grünen trat sie erst Ende der Neunzigerjahre bei - als sie merkte, dass bürgerschaftliches Engagement sehr schnell an seine Grenzen stößt. Nun ist sie OB-Kandidatin und hat seit dem Jahreswechsel den Wahlkampf wieder mit vollem Engagement aufgenommen. Eines hat sie jetzt schon erreicht: Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gibt es neben den Bewerbern der CSU und der SPD eine dritte Kandidatin, die nach allen Prognosen nicht abgeschlagen im einstelligen Prozentbereich bleiben wird. Zuletzt hat das 1960 ein Vertreter der Bayernpartei geschafft. Natürlich gelten Reiter und Schmid als haushohe Favoriten, doch Nallinger appelliert hartnäckig an ihre Unterstützer: "In der ersten Runde kann man nach dem Herzen wählen." Niemand verschenke seine Stimme, sogar Reiter und Schmid gingen davon aus, dass es zu einer Stichwahl komme.

Dass Nallinger sich bis zuletzt nicht mit der Rolle als Junior-Partnerin der SPD zufrieden geben will, ärgert den Koalitionspartner gewaltig. Zumal die Grünen-Politikerin so stark auf ihre Unabhängigkeit pocht, dass ihr das immer wieder als Flirt mit der CSU ausgelegt wird. Es ist bekannt, dass Schmid und Nallinger sich persönlich gut verstehen, inzwischen hält Nallinger sich allerdings mit Lob zurück. "Er prescht schon vor", sagt sie mit Blick auf Schmids liberale Grundhaltung. "Aber er hat erzkonservative Leute hinter sich." Schmid sagt, Nallinger sei "viel näher bei Schwarz-Grün, als sie das sagen darf". Er schätzt, wie frei und offen die Kollegin denke. "Aber das verkümmert gerade - wohl auf Druck von Rot-Grün", mutmaßt Schmid.

Wenn die Grünen wirklich im Stadtrat das Zünglein an der Waage sind, steht auch Nallinger "ganz klar" für Rot-Grün. Doch die Mehrheit wackelt. Und im Zweifel wäre Nallinger bereit, fast jedes Bündnis einzugehen, wenn so eine große Koalition zu verhindern wäre. "Natürlich gibt es für uns Grenzen. Fünf neue Straßentunnel zum Beispiel", sagt sie. Ein große Koalition aber würde in ihren Augen Stillstand bedeuten. "Das wäre nicht gut für München."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: