Logisch, dass sich Chris Boehm-Tettelbach zuletzt öfter die Wettervorhersage für das Wochenende angeschaut hat. Jahrelang hat er für sein Großprojekt geschuftet, da will er dann schon wissen, ob bei der feierlichen Eröffnung auch das Wetter passt. Es passte. Dabei kam ihm in den Sinn, dass er im Urlaub morgens immer den Wellen-Forecast checkt, mit der bangen Frage: Hoch genug zum Surfen? Nun, hier in Hallbergmoos falle die Antwort höchst erfreulich aus, wirbt er: „Ein bis zwei Meter, jeden Tag.“ Und damit willkommen in der „O₂ Surftown Muc“, Deutschlands erstem und Europas drittem, aber größtem Surfpark.
Zehn Jahre nach der Idee, fünf nach den ersten Entwürfen und zwei nach dem Spatenstich heißt es etwa 40 Millionen Euro später in Oliver-Kahn-Manier: „Da is‘ das Ding!“ Still und glatt liegt es da, das himmelblaue Wässerchen, als könnte es keiner trüben. Doch drückt der Wellen-Master oben im Turm einen der Knöpfe, rauscht innerhalb von Sekunden der erste, bald weißschaumige Brecher heran für einen Wellenritt. So jedenfalls am Samstag um 11.24 Uhr, als die erste offizielle Welle durch den 10 000 Quadratmeter großen und 170 Meter langen Pool geschickt wird.
In den Wochen zuvor war eifrig getestet worden; erst am Vortag war die australische Surf-Legende Mick Fanning da, dreifacher Sieger der World Surf League, und urteilte: „It was a blast!“
Nun also die erste wirkliche Einweihungs-Welle. Wem die gebühren würde? Surf-Prominenz war genug zugegen: Camilla Kemp, gerade erst Olympionikin geworden. Leon Glatzer, in Tokio erster deutscher Olympia-Wellenreiter. Marlon Lipke, einziger Deutscher, der es je in die World Surf League geschafft hat. Sebastian Steudtner, BigWave-Weltrekordler. Dazu jede Menge internationaler Cracks von Kalifornien bis Neuseeland.
Typen, die Freddie Meadows heißen und die Sonne im Gesicht tragen. Theoretisch hätten auch Staatsminister Georg Eisenreich oder Hallbergmoos-Bürgermeister Josef Niedermair aus den Fluten steigen können, doch Ersterer outete sich als Poloshirt tragender Gardasee-Windsurfer und Letzterer meinte, er müsse nach seinem Debüt unlängst noch ein wenig üben. Also wer jetzt?
Es ist dann ein in der Tat besonderer Surfer, der die Premierenwelle bekommt: Ben Neumann, auf dessen gelbem Shirt nur ein Wort steht: blind.
Per Funk ist er auf dem Brett liegend mit einem Helfer verbunden, der ihm ansagt: „Jetzt! Paddeln!“ Und Neumann paddelt, ist beim ersten Versuch ein bisschen zu spät dran, stürzt beim zweiten, bevor er es im dritten Anlauf schafft: hoch aufs Brett und ab geht’s! Jubel vom Beckenrand.
Es ist nichts anderes als ein Spektakel, was die Könner an diesem Tag in der Welle von Hallbergmoos veranstalten, egal ob auf Longboard, SUP oder Shortboard. So viel geballte Expertise werden sie in dieser riesigen Badewanne so schnell nicht mehr haben, aber das macht ja nichts. Schon am Sonntag beim Tag der offenen Tür zeigt sich, dass die Idee des Surftown-Gründers Böhm-Tettelbach aufgehen dürfte: „Unsere Vision ist es, Surfen für alle erlebbar zu machen.“
Hallbergmoos:Ein einstiges Bauerndorf wird zum Hotspot
In den vergangenen Jahrzehnten ist Hallbergmoos mit Eröffnung des Flughafens stark gewachsen und hat Mut zur Innovation bewiesen. Jedes Surfer-Magazin berichtet gerade über die Gemeinde. Ihren Charakter aber hat sie bewahrt, sagt der Bürgermeister.
Entstanden ist ein Wasserspielplatz für Profis und Einsteiger, mit acht Wellenhöhen, von 30 Zentimetern bis zu zwei Metern, Länge und Intensität ebenfalls einstellbar. Für Leute, die sich auskennen: von A-Frames bis Pointbreak, von Longboard-Wellen bis Tubes und Air Sections.
Wie das funktioniert? Pneumatisch, als würde man mit dem Strohhalm ins Glas blasen, wird Wasser aus 34 Wellenkammern in das Becken mit der Edelstahl-Laminat-Beschichtung gepustet.
Eine ganz andere Welle hatte zuletzt Camilla Kemp unter dem Brett: die legendäre von Teahupo‘o auf Tahiti, Austragungsort der olympischen Surf-Wettbewerbe. Die wiederum haben dank ein paar jetzt schon ikonischen Fotos dem Sport einen Auftrieb verschafft, den kaum jemand für möglich hielt – auch hier: gutes Timing, Surftown!
Wohl jeder hat Gabriel Medina gesehen, den scheinbar über den Elementen schwebenden Wellenreiter.
Oder den Wal, der im Halbfinale zum Gruß vorbeischaute. Auch Kemp hat vor Ort einen Wal gesehen, erzählt sie, „aber weiter draußen, nicht so nah am Ufer“. Ein Traum sei es gewesen auf Tahiti, „ein Riesen-Push für unseren Sport“, nur habe ihr Quartier ständig geschaukelt: Die Athleten waren auf einem Kreuzfahrtschiff untergebracht. Dafür hatten sie jeden Morgen ein paradiesisches Panorama vor der Nase: die Küste Teahupo‘os. „Aber das hier“, sagt Kemp und zeigt auf den Pool hinter sich, „das ist auch ein Paradies. Diese Welle kann alles simulieren, was es da draußen im Meer gibt – was verrückt ist.“
Beim Training am Tag zuvor habe sie so viele Wellen erwischt, dass schon „die Beine zu wackeln anfingen. Das ist nicht nur der Traum von Chris, der hier in Erfüllung geht, sondern der von sehr vielen Surfern.“
Chris Boehm-Tettelbach, dem Macher, unterstellt auch Leon Glatzer an diesem Tag „das Grinsen eines Kinds, das zum ersten Mal nach Disneyland darf“. Der 27-Jährige ist vor einem Jahr vom Surf-Spot Pavones in Costa Rica nach München gezogen – wegen der Surftown: „Ich habe zuvor noch nie in einer Stadt gelebt – und jetzt kann ich in München leben und surfen!“ Der Traum vieler Kids, Surf-Profi zu werden, rücke dank der Surftown näher, schwärmt Glatzer.
Mitte Oktober werden hier an der Trainingsstätte des nationalen Wellenreitverbands deutsche Meisterschaften ausgetragen. Auch Camilla Kemp legte die Latte schön hoch und sprach von Medaillen bei den nächsten Olympischen Spielen: „Dieser Surfpark ist ein absoluter Gamechanger. Deutschland wird eine Surf-Nation.“
Mal sehen. Aber in Kemps Worten spiegelt sich ein Mindset, das ihr der bislang erfolgreichste deutsche Surfer eingepflanzt hat: Marlon Lipke. 2009 war der mittlerweile 40-Jährige ein Jahr lang Teil der Welt-Elite, als Teilnehmer der World Surf League – und als Deutscher natürlich ein Exot. Wenn er in seinen Anfängen solche Bedingungen wie in Hallbergmoos gehabt hätte: gar nicht auszudenken. Die ersten Schritte, die richtige Positionierung am Brett: viel einfacher hier, sagt er.
„Die Melodie der Natur im Chaos finden“ – so geht Wellenreiten im Meer
Wellenreiten im Meer zu lernen, sei ganz anders: „Ich habe zwei Jahre gebraucht, bis ich eine Welle richtig erwischt habe. Da war ich acht.“ Die Welle kann er bis heute exakt beschreiben, so wie er auch über das Wellenreiten generell wunderbar sprechen kann: „Es geht gar nicht um dieses Klischee von der perfekten Welle, sondern vielmehr um Imperfektion: darum, die Melodie der Natur im Chaos zu finden.“ Seine Sommer verbringt er im übrigens in den Bergen Kärntens, bei seiner Freundin, die Winter in den Wellen dieser Welt: „Das geht gar nicht anders.“
Ähnlich sieht das Sebastian Steudtner, der Guinness-Book-Weltrekordler. Er hat schon als Kind versucht, mit einem selbst gebastelten Gefährt von seiner Heimat Nürnberg an den Rothsee zu kommen, Hauptsache Wasser. Heute reist er wie alle Big-Wave-Profis dem „Swell“ hinterher und lebt im Winter in Nazaré an Portugals Atlantikküste, wo eine Laune der Natur die größten Wellen des Planeten entstehen lässt.
Mehr als 26 Meter hoch war seine Rekordwelle – und so einer hat Spaß an Zwei-Meter-Wellen im Airport Business Park von Hallbergmoos? „Ich komme viel zu wenig dazu, auch mal kleine Wellen zu reiten“, sagt er und fügt grinsend an: „Jetzt machen München-Termine viel mehr Sinn.“ Das Surftown-Konzept findet er vielversprechend: „Geiler geht’s gar nicht. Also wenn das nicht funktioniert …“
Das wird sich nun zeigen. Ein bisschen Baustelle ist noch zu bewältigen, aber von Montag ab 7 Uhr bis 23 Uhr kann nun jeden Tag gesurft werden, es sei denn es droht ein Gewitter. Ins Restaurant „Lookout“ und hoch auf die Terrasse zum Zuschauen kommt man auch ohne Ticket. Die S-Bahn vom Ostbahnhof braucht 24 Minuten, für die letzten vier Kilometer gibt’s einen E-Bike-Verleih. 69 Euro kosten zwei Anfänger-Stunden, inklusive Coaching, Brett- und Wetsuit-Leihe. Und wer wirklich motiviert ist, dem ist auch der Wetterbericht egal. Immerhin kennt man schon den Wellen-Forecast: ein bis zwei Meter, jeden Tag.