Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Wo München ganz weit weg ist

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Wer die neuesten Trends mitbekommen will, muss nach Berlin fahren. Oder doch nicht?

Glosse von Stephan Handel

Berlin! Berlin! Auf geht's nach Berlin. Lange nicht mehr in der Hauptstadt gewesen, weil: Wir haben Hauptstadt zuhause. Außerdem weiß jeder, Berlin ist laut, hektisch und schmutzig, und was die Eingeborenen liebevoll Schnauze nennen, heißt anderswo einfach Unhöflichkeit. Es ist aber ein Besuch nötig, auch wenn der Lokführerstreik eher als Warnung denn als Herausforderung verstanden werden sollte.

Mit dem Vollbart ist's leider nichts mehr geworden, so dass jedermann/frau/divers sofort den Touristen erkennen kann, denn in Berlin tragen alle Männer Vollbart und eng geschnittene Anzüge oder so Pullis mit Kapuzen dran. Zu essen wird es vier Tage lang wahrscheinlich nichts anderes als Bowls geben, denn was in unserer kleinen Stadt einfach Beilagensalat heißt oder Gemischter Salat mit Putenstreifen, hat in Berlin natürlich nichts mit der guten alten Salatschüssel zu tun, sondern: Bowl! Da ist dann Quinoa drin und diese kleinen roten Kügelchen, deren Kerne immer in den Zähnen stecken bleiben, aber das ist egal, ist es doch Superfood, also kein normales Essen zum Stillen des Hungers, sondern sorgfältigst nach neuesten ökotrophologischen Erkenntnissen zusammengestellte Hyper-Nahrung, nach deren Genuss man wahrscheinlich Klavierspielen, Springreiten und die Sprache der Tiere verstehen kann.

Als einer der ersten Programmpunkte ist der Besuch einer Ausstellung im Gropius-Bau geplant, die heißt "Die Politik der Pflanzen", der Reisende ist schon sehr gespannt, welche Pflanze wohl die FDP beziehungsweise ihren Vorsitzenden Lindner repräsentieren wird: Vielleicht irgendeine Schnittblume, immer adrett anzusehen, relativ nutzlos und dem Untergang geweiht. Etwas wehmütig denkt der Reisende an den Botanischen Garten in der Heimatstadt, wo Sukkulenten und Frühblüher ganz ohne Politik herumstehen, damit die Leute dazwischen spazieren gehen können.

Gerade in der Kaufingerstraße eine junge Frau gesehen, auf ihrem T-Shirt standen die Berliner Stadtbezirke: Charlottenburg, Spandau, Kreuzberg, und so weiter. Ist das das, was früher "I Herz NY" war? Die Sehnsucht nach Metropole, nun aber zusammengefaltet auf Regionalität, Kleinteiligkeit, auf das Grätzl, wie der Wiener sagt? Das wäre dann mal etwas Neues, denn wer früher der Kleinstadt oder dem Dorf entfloh, der wollte ja gerade die Anonymität und die Wahlmöglichkeiten der Großstadt und nicht schon wieder soziale Kontrolle hinter der Gardine.

Oder ist der Berliner da schon wieder mal weiter als der Rest des Landes? Das hier ist zwar Großstadt, aber Großstadt ist doof, deswegen bleiben wir in unserem Viertel und tun so, als wären wir Dorfgemeinschaft, hier, Urban Gardening, das ist unsere Allmende? Das wird die Leute in Altperlach oder in Aubing freuen, denn sie haben's noch nie anders gemacht. Man muss eigentlich doch nicht nach Berlin fahren, um die neuesten Trends mitzubekommen.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2021
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