Süddeutsche Zeitung

Volksfeste:Wenn sich die Sprache verzerrt

Diese Studie verdient ein klirrendes Prosit: Für welche bahnbrechenden Erkenntnisse über Volksfeste eine Ethnologin am Ende einen Doktortitel erhält.

Von Rudolf Neumaier

Es ist wieder viel über Doktorarbeiten geredet worden diese Woche. Und natürlich über die Wiesn. Wie's der Teufel will, landete zur rechten Zeit eine Dissertation über Volksfeste auf dem Schreibtisch: "Feiern im Festzelt als Cultural Performance". Verfasst von der Ethnologin Claudia Bosch, basierend auf einer Feldstudie im Zelt. Man kann so etwas auch Fronteinsatz nennen: Frau Bosch recherchierte auf dem Cannstatter Wasen, dessen größter Unterschied zum Oktoberfest darin besteht, dass das Hendl als Göckele bezeichnet wird und sich die Konversation der Zeltgäste nach fortgesetztem Biergenuss auf den Zischlaut "Schschschschsch" beschränkt, wo andernorts noch gepflegt gelallt wird. Denn der Wasen liegt bei Stuttgart.

Wie Feiern den Durst fördert

Frau Dr. Bosch lehrt inzwischen in New Haven, Connecticut. Jede der 327 Seiten und 753 Fußnoten ihrer Studie verdient ein klirrendes Prosit, denn sie schäumen über vor verblüffenden Beobachtungen und inspirierten Thesen, die völlig neue Perspektiven auf Volksfeste eröffnen. Zum in den Geisteswissenschaften bisher kaum beachteten, weil allzu komplexen Thema Biertrinken fand sie unter anderem das heraus: "Das fortwährende Animieren, das Prosit zu zelebrieren und gemeinsam anzustoßen, hilft beim (frühen) Leeren des ersten Bieres. Zudem fördert das stundenlange Feiern selbst den Durst. Das laute Singen macht einen rauen Hals, den Trinken glättet." Bei ihren Probanden fielen der Forscherin zuerst "körperliche Beeinträchtigungen ins Auge. Die Sprache verzerrt sich." Dieser bahnbrechende Befund könnte auch für die Medizin interessant sein: Endlich weiß man, wie Alkohol wirkt.

Wann "enthemmte Körperlichkeit gegeben ist"

Claudia Bosch richtet ihren Blick vom Individuum ins weite Zelt. "Aktionen von Betreibern und Besuchern", stellt sie fest, "sind zu einem gewissen Maß interdependent und verflechten sich über den Abend hinweg." Denn: "Diese rhythmische Dynamisierung und deren Umkehrung am Ende des Abends beruht nicht auf einem monokausalen Ursache-Wirkungs-Prinzip." Schöner kann man es nicht sagen.

Und überhaupt: "Auf dem Stimmungshochplateau ist der Feiertrubel dadurch charakterisiert, dass eine (relativ) enthemmte Körperlichkeit gegeben ist und allenthalben kreativ-individuelle Aktionen geschehen. Die strenger ,geregelten' liminal-rituellen Handlungsmuster treten dann tendenziell in den Hintergrund."

Alles heiße Luft im Sinne von Schschschschsch?

Und wir Zeltbesucher sind sowieso nurMarionetten des Kapitalismus und höherer Mächte, wie es die Wiesnwirte nun mal sind: "Die temporale Struktur der Vorgänge im Festzelt entwickelt sich nicht ,organisch', sondern ist organisatorisch und betriebswirtschaftlich determiniert." Wiesn und Wasen sind unterm Strich lupenreine Paradigmenwechsel von vorne bis hinten, wobei "noch während der Liminalität der Anfang der Reaggregation" einsetzt. Verstanden?

Nein? Wer diese Studie für heiße Luft im Sinne von Schschschschsch hält, bekommt nächstes Jahr rhythmisch-dynamisch-monokausal Wiesnverbot und wird liminal-rituell-temporal verbannt. Auf den Wasen. Oder nach Connecticut.

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SZ vom 02.10.2015/angu
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