Neulich, als es so verdammt kalt war und zur allgemeinen Überraschung Schnee auf München fiel, hatte unser Nachbar M. ein fürchterliches Morgenerlebnis. Gerade war er vor die Tür getreten, in freudiger Erwartung, mal wieder über die bescheuerte Stadt schimpfen zu dürfen, die nicht mal in der Lage sei, den Schnee vom Bürgersteig zu räumen, da rollte so ein orangefarbener Schmalspurschneepflug an - und siehe da: Der Schnee war weg.
Nachbar M. war konsterniert, er war richtig außer sich, und in seinem Gesicht bildeten sich rote Flecken, so als hätte der Schneepflug ein paar Spritzer Erdbeermarmelade auf ihn geschleudert. Nun ja, dass er dem Fahrer dieses Verdrussgefährts einen Schneeball hinterherwarf, der in einem Kinderwagen landete und peinliches Geschrei verursachte, wäre vielleicht nicht nötig gewesen, aber man muss auch Verständnis haben. Das ganze Frühstück über hatte sich M. darauf gefreut, einen Wutanfall zu kriegen, weil in München nix funktioniert, und just dann funktioniert etwas. Wirklich frustrierend!

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Um den Tag zu retten, ist Nachbar M. mit der S-Bahn in die Arbeit gefahren. Sonst nimmt er ja immer das Auto, weil er auf dem Mittleren Ring eine prima Stau-falle kennt, die ihm eine Stunde ungestörten Ärgers verheißt. Aber die S-Bahn schien doch noch sicherer ins Verderben zu führen. Und was soll man sagen? So war es auch.
Mit Tausenden anderen verbrachte er den halben Tag auf dem Bahnsteig, nichts kam, nicht einmal eine Durchsage, und Nachbar M. konnte endlich so richtig ablästern, konnte eine Suada sorgsam aufgestauten Zorns über die Deppen von der Bahn loswerden, auch die Deppen von der Stadt bekamen ihr Fett weg und ebenso die übrigen Deppen, wie ja überhaupt alle Deppen sind, nur M. nicht, das braucht er nicht einmal zu erwähnen. Nach vier Stunden Schimpfens war er hochgestimmt, ja geradezu glücklich. Ärgerlich war nur, dass dann doch eine S-Bahn einfuhr.
Bei flüchtiger Betrachtung könnte man M.'s Dauerzorn für eine Art Brauchtumspflege halten, etwa dergestalt, dass er den ehrwürdigen Typus des Münchner Grantlers am Leben hält. Aber so ist es nicht. Der Grantler ist ein gemütlicher, in sich ruhender Mensch, der behaglich vor sich hingrantelt, weil ihm dabei das Bier besser schmeckt. Erregung, ungestümer Furor liegt ihm fern, anders als den Münchner Wutbürgern vom Typ M., die jedes Blatt, das vom Baum fällt, zum Beweis nehmen, dass sie in der verkommensten Stadt der Welt leben.
Wer, sagen wir, nach einem Lotto-Millionengewinn oder weil er eine Freikarte für die Erdinger Therme bekommen hat, in Champagnerlaune ist, wird in Gegenwart eines Münchner Wutbürgers schon nach wenigen Minuten so trübsinnig, dass er die Klinikclowns zu Hilfe rufen muss. Übrigens: Nachbar M. hat angekündigt, er werde sich bei der Stadt beschweren, wenn im nächsten Frühling die Amseln wieder so laut singen. Und die Amseln selbst, fügte er händereibend hinzu, dürfen sich schon mal auf eine Klage wegen Ruhestörung gefasst machen.