Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Unendliche Besinnlichkeit

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Der pflichtbewusste Münchner möchte in der Adventszeit mehr shoppen, als er Zeit hat. Praktischerweise verwandelt sich der Haupt- dafür in einen Einkaufsbahnhof. Und sogar die S-Bahn bemüht sich

Kolumne von Anna Hoben

Es wäre gut und folgerichtig, wenn der Advent acht Wochen dauerte. Die Zeit im Dezember ist einfach zu kurz, um so viel einzukaufen, wie jeder pflichtbewusste Münchner in der Adventszeit einkaufen sollte. Denn dass dies der Sinn und Zweck der besinnlichen Wochen vor Weihnachten ist, weiß jedes kleine Kind. Sollte es kurzzeitig in Vergessenheit geraten, wird man netterweise daran erinnert. Man geht zum Beispiel durchs Zwischengeschoss im Hauptbahnhof und hört schöne Töne: Ein Chor singt Adventslieder, da möchte man gern länger zuhören. Doch dem Aufsteller daneben ist nicht nur zu entnehmen, dass der Name der Truppe - "Harmunichs" - jedem sprachlich kreativen Friseursalon Konkurrenz machen könnte. Da steht auch, was das hier eigentlich ist: ein Teil einer Konzertreihe, nicht etwa im schnöden Hauptbahnhof, sondern im - Wink mit dem Zaunpfahl - Einkaufsbahnhof. Verschwörungstheoretiker munkeln ja auch, die Stammstrecke sei nur deshalb im Winter so oft gesperrt, um die Leute länger in der Stadt beim Shoppen zu halten. Stellwerkstörung? Ja, von wegen.

Der eigene Mobilfunkanbieter hat die Zeichen der Zeit erkannt. Es reicht einfach nicht aus, wenn erwachsene Menschen einander Adventskalender schenken, bei denen schon am ersten Dezember ein Tablet, am zweiten Dezember ein Flachbildfernseher und am dritten Dezember eine Kreuzfahrt aus den Türchen kommen, was am 24. Dezember eigentlich nur noch durch eine Doppelhaushälfte gesteigert werden kann. Deshalb hat der Mobilfunkanbieter seinen eigenen Adventskalender. Mit sagenhaften 31 Türchen. Nicht ganz acht Wochen, aber immerhin ein Schritt in die richtige Richtung. "Wir verlängern die besinnliche Zeit", verspricht der Anbieter, und: "Freude in Überlänge". Am Nikolaustag war zu gewinnen: ein Grill, nein, eine "BBQ-Station" mit "extra heißer Primezone und fünf Hochleistungsbrennern".

Den Kaufreflex vorbildlich verinnerlicht haben offenbar jene Passanten, die jüngst an einem Sachverständigenbüro für Unfallgutachten in Untergiesing vorbeigekommen sind. Im Schaufenster türmt sich eine Pyramide aus Schachteln, die italienische Kuchen enthalten. Die Passanten haben den armen Gutachter in ihrer Kaufwut wohl so bedrängt, dass der sich gezwungen sah, einen Hinweis neben die Pyramide zu kleben: "Die in der Auslage sichtbaren Panettone sind NICHT zu verkaufen! Es handelt sich hierbei um Kundengeschenke."

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Quelle:
SZ vom 07.12.2019
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