Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Querele im Quartett

Jetzt gibt es nicht nur männliche, weibliche und diverse Münchner, sondern auch durchgeimpfte, halbgeimpfte, nichtgeimpfte, genesene sowie geimpfte genesene. Das hat Folgen für die Umgangsformen

Kolumne von Wolfgang Görl

Im Sommer, so hat Corona-Minister Jens Spahn versprochen, wenn die Impferei erst einmal richtig in Schwung gekommen ist, wird das Leben wieder sorgenfrei, locker und lässig. Ja Pustekuchen! Gar nichts ist locker. Alles ist jetzt viel komplizierter.

Zum Beispiel unser Streichquartett: Mehr als ein Jahr hat es nicht geprobt, das ist selbst für ein Ensemble dieser Klasse nicht hilfreich. Das Quartett besteht aus Ludmilla, die die erste Geige spielt und in ihrer Freizeit die Computer großer Orchester hackt, um an Noten heranzukommen. Es ist gut, wenn eine Frau die erste Geige spielt. Männer sind wegen ihrer Grobmotorik für die Violine nicht geschaffen. Das hört man auch bei James und Willi, die an der zweiten und dritten Geige sitzen. Vor allem Willi trifft selten den richtigen Ton, und wenn, dann zur falschen Zeit. Aber er bringt immer eine Flasche Bauernwein mit und ist deshalb unabkömmlich. Das Cello bedient Gotthilf, der so spielt, wie er heißt. Und unsereins traktiert die Bratsche, da muss man gar nichts können. Und wenn jetzt einer sagt, das sind ja fünf Streicher, ein Quartett besteht aber aus vier, dann soll er sich schämen. Das ist altes Denken, das Beharren auf überkommenen Strukturen.

Jetzt sollte es endlich zur Probe kommen, aber: Ludmilla, die ungeimpft ist, weil sie als junge Frau frühestens 2023 an die Reihe kommt, fürchtet sich vor Willi, der ebenfalls ungeimpft ist, aber aus Überzeugung. Cellist Gotthilf hat zwar zwei Impfungen intus, aber ihm ist James nicht geheuer, der Engländer ist und im Wembley-Stadion war. Der könnte die Delta-Variante mitbringen - und wer weiß, ob die Doppeldosis Astra Zeneca dieser Mutation gewachsen ist. Unsereins ist nach nur einer Impfung auch nicht auf der sicheren Seite, wäre aber bei der Probe dabei, sofern James eine Maske trüge und Willi die Finger von seiner Geige ließe. Doch James verweigert den Mund-Nasen-Schutz, weil er sich seit dem Brexit von EU-Europäern nichts mehr sagen lässt. Willi wiederum behauptet, das Virus stamme aus chinesischen Laboren und existiere gar nicht. Darauf Gotthilf zu Willi: "Du Depp!" Inzwischen hat sich unser Quartett aufgelöst.

Das tragische Beispiel zeigt, wie verworren die Lage ist. Jetzt gibt es nicht nur männliche, weibliche und diverse Münchner, sondern auch durchgeimpfte, halbgeimpfte, nichtgeimpfte, genesene sowie geimpfte genesene. Das hat Folgen für die Umgangsformen. Wer heute einen Gemüseladen betritt, erweist sich als höflicher Mensch, wenn er sagt: "Grüß Gott, ich heiße Meyer, bin zweimal mit Biontech geimpft und möchte ein Pfund Kartoffeln bitte." In kleineren Gruppen ist es auch erlaubt, die Kurzform zu wählen: "Schmidt, ungeimpft, aber getestet." Dass der kultivierte Herr einer Dame nicht nur den Mantel abnimmt, sondern auch die Maske, versteht sich von selbst.

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Quelle:
SZ vom 10.07.2021
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