Null Acht Neun:Jeden Tag ein Wumms

Jetzt schnappen alle über: vor Freude, Konsumgeilheit und Paarungswillen. Richtig so, denn wer weiß, wie lang dieser fragile Zustand des minimalen Aufatmens anhält?

Glosse von Christiane Lutz

Es ist der erste Opernbesuch seit gefühlt hundert Jahren. Zum Glück steht das Gebäude prominent in der Stadt herum, sonst hätte man während all der düsteren Monate den Weg dorthin vergessen. Selbstverständlich wurde auf völlig unnachhaltige Weise ein Kleid im Internet erworben, ausschließlich für diesen Anlass. Dass das Kleid sehr sommerlich ist und das Wetter eher nicht so sommerlich, davon lässt man sich nicht mehr beeindrucken. Strumpfhose abgeschnitten, Funktions-Shirt unter das Kleid gezogen, sieht doch kein Mensch. Jetzt wird sich amüsiert.

Der Punkt ist doch: Wir können es uns nicht mehr leisten, schlechte Abende zu haben. Wer weiß, wie lang dieser fragile Zustand des minimalen Aufatmens anhält? Diese Seifenblase kurzer Halbsorglosigkeit? Ewig sicherlich nicht, die nächste Mutante lauert ja schon. Effizienz, Optimismus und maximale Euphorie sind also angesagt. Sich Amüsieren ist in diesem jetzt schon zu kurzen Münchner Sommer absolute Bürgerinnenpflicht. Die Stadt hat sich kollektiv dazu entschlossen, nicht anders sind die Restaurantbesuche bei eisigem Nieselwind und sieben Grad zu erklären, die man in den vergangenen Wochen draußen durchführte. Man nimmt, was kommt. Früher nach Hause gehen ist keine Option. Die Erinnerung an die letzte Party ist in zu weite Ferne gerückt, als dass man sich irgendwas potenziell Interessantes entgehen lassen dürfte. Moderne Oper? Mittagsmenü eher langweilig? Müde? Hose passt nur so halb? Egal! Rein da, runter damit, husch husch, gekauft. Sich den Tag durch irgendwas vermiesen zu lassen ist verboten. Dass das Kleid auf dem Heimweg von der Oper in die Fahrradbremse gerät und einreißt? Wie lustig!

Ein Freund gestand, dass er Angst davor habe, jetzt nicht mithalten zu können, wenn alle überschnappen vor Freude, Konsumgeilheit und Paarungswillen. Es beklemme ihn, dass er bald schon wieder an den Wochenenden zwischen den nachzuholenden und den aktuellen Geburtstagen, Hochzeiten und Taufen jonglieren muss. Schweißausbrüche bei der Vorstellung des überfüllten Gärtnerplatzes, Panik, etwas zu verpassen,weil jetzt auf Teufel komm raus irgendwas kompensiert werden muss. Er plädiert für mehr Gelassenheit und weniger ekstatische Hyperventilierung. Die Dinge loszulassen, die nicht nachzuholen sind. Trotz geöffneter Restaurants zuhause bleiben zu dürfen.

Er hat natürlich keine Ahnung.

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