Null Acht Neun:Immer schön der Schlange nach

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Ordnung ist wichtig - gerade in besonderen Zeiten. Mancherorts geht das in diesen Tagen aber auch ein bisschen weit

Kolumne von Christiane Lutz

Corona, das ist leider inzwischen eine unumstößliche Wahrheit, bringt viel Schlechtes in den Menschen hervor. Von den frühen Klopapier-Hamstereien mancher Nervöslinge soll hier geschwiegen werden, auf dass wir sie für immer vergessen. Viel mehr sorgen andere coronabedingten Umstände für seltsame Ausbrüche und schlechte Laune überall. In München muss man sich beispielsweise jetzt für den Freibadbesuch vorher online anmelden. Es mag ein Fehler im System sein, dass man keine Slots, nur komplette Tage buchen kann (wer schwimmt von 9 bis 19 Uhr?). Jedenfalls hatte man lang kaum Chance auf spontane Abkühlung, wenn das Wetter passte, weil ständig alles ausreserviert war. Manche, die sich für besonders gewitzt hielten, hamsterten nämlich einfach mehrere Freibad-Tage im Voraus. Das ist dann doch wieder wie beim Klopapier: Man könnte ja müssen, ähm, hingehen wollen. Hauptsache, die anderen müssen nicht. Oder so.

Dann die neuen Störgefühle in den Warteschlangen. Klar, die Warteschlange war immer schon ein neuralgischer Punkt der Gesellschaft. Aber Warteschlangenfanatiker, die früher ungeniert Einkaufswägen in die Kniekehlen ihrer Vordermänner rammen durften, müssen jetzt Abstand lassen. Eine kaum zu verteidigende Lücke im Strafraum sozusagen, eine fahrlässige Einladung an alle Rüpel. Die Angst, übergangen zu werden, steckt abgrundtief. Neulich vor einer kleinen Münchner Buchhandlung zum Beispiel. Ein Schild: "Nur vier Kunden". Im Laden: ein Kunde. Draußen: zwei Kunden. Klar, denkt man da als Dazukommende, die stehen nicht an, die stehen nur rum. Also will man vorbei ins Geschäft. "Halt", schnaubt einer, "hier ist die Schlange!". Man stutzt: "Aber es ist doch nur einer drin? Warum gehen Sie nicht rein?" "Weil ich warten will, bis ich bedient werde." Zur wartenden Frau: "Und warum gehen Sie nicht rein?" Frau: "Weil ich warte, bis er dran war. Ich bin nämlich nach ihm dran. Dann erst Sie, Sie Abstands-Analphabetin."

Gut, Letzteres sagt sie nicht, aber sie denkt es ganz offensichtlich. Der Buchhändler im Laden schaut schon ganz besorgt nach draußen. Solche Misstöne vor seinem Laden kennt er nicht. Man lässt nicht locker: "Aber dann kann ich ja rein, wenn Sie draußen auf Beratung warten?" Die Frau: "Rein dürfen Sie schon, nur bedient werden dürfen Sie nicht." Nach unterwürfiger Beteuerung, man wolle auf absolut gar keinen Fall bedient werden, sondern nur gucken, machen sie den Weg frei, nur um sich kurz darauf triumphierend zum Buchhändler durchzuschlängeln "ich bin dran!".

Also hält man sich am nächsten Tag beim Anstehen in der Bank erst recht zurück, als plötzlich eine Überschminkte an allen Wartenden vorbei nach vorn zum Automaten sticht. Sie zuckt mit den Schultern: "Wenn Sie so langsam sind! Ich bin Fernsehjournalistin!" Klar, die müssen alle Nicht-Fernsehjournalisten vorlassen. Dieser kleinbürgerlichen "ich zuerst"-Atmosphäre kommt man wohl nur mit haufenweise Gelassenheit bei. Also schnell geschaut, ob spontan ein Kurs im Yogastudio des Vertrauens stattfindet. Aber: schon alles ausreserviert.

© SZ vom 25.07.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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