Null Acht Neun:Hochgradig dekadent

Die CSU hat herausgefunden, dass die Stadt nicht mehr so ist, wie sie früher war: Ein Millionendorf mit schicken Autos. Fürchterlich gemütlich. Unfassbar übergeschnappt.

Kolumne von Rudolf Neumaier

Wo leben wir hier eigentlich? Was ist dieser Haufen Beton südlich von Unterschleißheim überhaupt? Reality-Horror mit Science-Fiction-Mietpreisen? Ein einziges Verkehrschaos um einen zentralen Volksfestplatz herum, über dem gerade wieder die letzten Hendlschwaden verdampfen? Die Siedlung auf der ehemaligen Schotterebene entlang der Isar hat eine Identitätskrise, die sich gewaschen hat. Man muss heutzutage schon in die Geschichtsbücher schauen oder mit sehr alten Menschen jenseits der 35 reden, um zu ahnen, was das mal war. Ein Millionendorf mit schicken Autos. Fürchterlich gemütlich. Überwiegend charmant. Unfassbar übergeschnappt. Oft besoffen von sich selbst. Hochgradig dekadent. Name: München.

Die CSU hat herausgefunden, dass diese Stadt nicht mehr diese Stadt ist, und deshalb angekündigt, mit der Losung "Wieder München werden" in den Kommunalwahlkampf zu ziehen. Sie beschwört Zeiten, in denen U-Bahn-Fahren entspannender war als eine Fußmassage, und die Promi-Skala von Freddy Mercury bis Erni Singerl reichte. Überprüft man die soziologischen CSU-Befunde bei Zeitzeugen im Freundeskreis, hört man von harten Sitzschalen in der U-Bahn, von betrunkenen Bundesliga-Fußballern im P1 und von einer Fernsehmoderatorin im Schlachthofviertel, die sich gern bei offenen Fenstern dem Sexualverkehr widmete und so laut brüllte, dass man es in Giesing noch hören musste. Wer da nicht nostalgisch wird, ist sehr jung oder innerlich längst ein Hamburger. Oder beides.

Kristina Frank, die Oberbürgermeister-Kandidatin der CSU und mit 38 Jahren eine Veteranin des historischen München, nimmt die Stadt als "unheimlich gestresst" wahr. Um das zu ändern, wird sie Senf in Gläsern verteilen. Das ist schon mal ein guter Anfang, Senf ist zweifellos münchnerischer als Nougatcreme, Büroklammern oder Markus-Söder-Buttons. Aber vielleicht sollte die CSU besser in Schulen eine Stunde Lokalgeschichte pro Woche ein- und dort Werke von Helmut Dietl vorführen, dabei Kindern ab Klasse vier Bier und Schampus verabreichen.

Wenn München nicht mehr München ist, dann ist in letzter Konsequenz die Münchner CSU nicht mehr die Münchner CSU. Schade wäre das für den Stadtrat, der sowieso schon bald keine SPD mehr hat, weil ihr die Genossen davonlaufen - den Anfang machte Alexander Reissl mit seinem Wechsel zur CSU. Die CSU müsste ihn zurückschicken, wo er herkam, wenn München wieder München werden soll.

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