Null Acht Neun:Eine Bühne für die Wutabonnenten

Mayer, Christian

Illustration: Bernd Schifferdecker

Am vergangenen Samstag bei der Premiere von Tschechows "Iwanow" war es auf der Bühne bisweilen recht still. Im Publikum dagegen nicht

Von Christian Mayer

Der Kabarettist Dieter Hildebrandt hatte in seinen späteren Jahren einen guten Rat, den er gerne jüngeren Leuten mit auf den Weg gab: "Lasst euch ja nichts gefallen! Seid widerspenstig und sitzt nicht einfach nur still da!" Offenbar haben sich das ein paar Leute zu Herzen genommen, obwohl man bei Hildebrandt immer ein wenig auf der Hut sein musste, weil manches ja auch ironisch oder sogar selbstironisch gemeint war: "Ich habe mit einigem Entsetzen festgestellt, dass auch die Weisheit im Alter nicht nachwächst. Das hat man mir, als ich noch jünger war, immer wieder vorgelogen", schrieb er in seinem Buch "Nie wieder achtzig!"

Dass der Ratschlag des Kabarettisten nicht auf taube Ohren gestoßen ist, konnte man gerade live erleben. Am vergangenen Samstag, bei der Premiere von Tschechows "Iwanow" saßen offenbar lauter Theaterfreunde, die sich nichts mehr gefallen lassen wollen. Weil die Schauspieler das Stück über den schwermütigen Gutsbesitzer und seine schwindsüchtige Frau dermaßen subtil und leise spielten, regte sich schon vor der Pause kollektiver Widerstand, sehr zum Erstaunen der Schauspieler gab es auf einmal eine Interaktion mit dem Publikum. "Lauter", "wir hören hier nichts", das waren noch die höflichsten Aufforderungen aus den hinteren Reihen. Und als Darsteller einmal für zwei Minuten stumm und elegisch das große Erschöpfungsdrama der modernen Gesellschaft zelebrierten, schrie ein feiner älterer Herr vom ersten Rang herab: "Wir haben's jetzt begriffen, spielt's endlich weiter!" Nach dem Wutbürger, der seinen Frust über die politischen Verhältnisse auf offener Straße und im Internet herauskrakelt, haben wir jetzt also den Wutabonnenten. Eine ganz neue Kategorie, die man seit dieser Spielzeit auch an den Kammerspielen kennt.

Nebenan in der sechsten Reihe waren zwei Damen, etwa zwischen Mitte siebzig und Achtzigplus, nicht mehr zu besänftigen, sie waren kurz davor, die Bühne des Residenztheaters zu stürmen und dem armen Iwanow mal den Marsch zu blasen. Ja, es ist schon schwierig, wenn man nicht mehr ganz so gut hört, und wenn die Schauspieler anders als im Fernsehen nicht brüllen, weil man sowieso den Ton auf Stufe zehn gestellt hat. Das leise Sprechen, das Hauchen, das man selbst in der letzten Reihe noch versteht, ist allerdings auch eine hohe Kunst, die selbst Staatsschauspieler auf die Probe stellt.

Später, als die Iwanow-Truppe auf der Bühne die Lebensmelancholie mit Wodka bekämpft und es ordentlich zur Sache geht, waren die widerspenstigen Damen in Reihe sechs wieder fast versöhnt mit dem Resi. Was so ein bisschen Geschlechtsverkehr oder zumindest die Andeutung eines solchen doch bewirken kann, wenn man trotz Schwerhörigkeit kein bisschen weise geworden ist.

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