Süddeutsche Zeitung

Null Acht Neun:Ein Zoomen der Gemütlichkeit

Hier ein offizieller Krug, dort ein virtueller Wiesn-Rundgang - doch das reicht als Ersatz noch lange nicht. Das richtige Oktoberfest-Feeling hängt von ganz anderen Dingen ab

Glosse von Andreas Schubert

Wohnte man nicht in der Nähe der Theresienwiese und sähe dort aktuell nicht nur Test- und Protestzelte, könnte man derzeit fast glauben, dass das Oktoberfest wie früher stattfindet. Nächste Woche etwa laden die Brauereien zur offiziellen Oktoberfestbierprobe. Und just erreichte einen die frohe Botschaft, dass der Krug der Wirtshauswiesn "enthüllt" sei. Ja, der Wiesnkrug hat für die Münchner eine ähnliche Bedeutung wie der Heilige Gral für die Kreuzritter. Die Wirtesprecher Schottenhamel und Inselkammer müssen sich wie Parsifal vorgekommen sein und konnten sich ein feierliches "enthüllet den Krug" wahrscheinlich nur schwer verkneifen, auch wenn das Ding von der Größe her eher eine bessere Tasse ist. Wer's größer mag, kann sich natürlich den offiziellen Wiesnkrug der Stadt zulegen und im heimischen Herrgottswinkel dann Oktoberfestbier aus der Flasche reinkippen.

Den städtischen Krug preist auch heuer wieder Wiesnchef und Wirtschaftsreferent Clemens Baumgärtner mit der Professionalität eines Kaffeefahrt-Animateurs auf Youtube als "Objekt der Begierde" an. Damit man mit seiner Mass dann nicht gar so einsam daheim hockt, bietet die Stadt überdies acht virtuelle Wiesnführungen an. Für sagenhaft günstige 15 Euro - so viel, wie wahrscheinlich eine Mass beim nächsten analogen Oktoberfest kosten wird - kann man sich per Zoom-Konferenz von einer offiziellen Gästeführerin eineinviertel Stunden lang über ein virtuelles Oktoberfest führen lassen und mit verschiedenen Ehrengästen und anderen Besuchern vor dem Bildschirm anstoßen. Wiesnchef Baumgärtner ist da natürlich auch dabei, wahlweise auch Wirt Schottenhamel und andere.

Teilnehmer sind ausdrücklich aufgefordert, sich in Dirndl oder Lederhosen ans Laptop zu setzen. Was die Werbung allerdings vergessen hat: Für ein echtes Wiesnfeeling ist einiges zu beachten. Das Hendl ist ordnungsgemäß zu lange und zu heiß im Ofen zu belassen. Für eine authentisch eingeschenkte Mass ist ein Viertel des Flaschenbieres wegzuschütten. Und wer es ultimativ echt mag, kann sich auf dem Balkon zusätzlich seinen privaten Kotzhügel aufschütten.

Sollte die Wiesn entgegen aller Beteuerungen auch nächstes Jahr ausfallen, könnte das IT-Referat ein Computerspiel herausbringen, das den Einzug der Wiesn-Wirte simuliert. Mit einem zugkräftigen Namen wie Grand Theft Bierkutsche würde es sicher weltweit weggehen wie warme Ochsensemmeln.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5406846
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 11.09.2021
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.