Zeitzeugen der NS-Zeit in München:"Die Nachbarskinder beschimpften mich als Saujuden"

Hermann Göring spricht zur Volksabstimmung in München, 1934

Für einen Auftritt von Hermann Göring auf dem Königsplatz im Jahr 1934 sind die Propyläen mit einem beleuchteten Hakenkreuz und einem Schriftband "Mit Adolf Hitler für Deutschland" geschmückt.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Sie erlebten München als "Hauptstadt der Bewegung": Vier Zeitzeugen erzählen über Bomben in der Nacht, den letzten Blick des Vaters vor der Deportation - und eine Mineralwasserlieferung zu Hitlers Privatwohnung.

Protokolle von Oliver Das Gupta

Elisabeth Honsell, 98 Jahre

"Als junge Frau habe ich meiner Mutter geholfen, die auf dem Viktualienmarkt einen Blumenstand hatte. Oft kam jüdische Kundschaft, das waren meist sehr freundliche Leute wie die Familie vom Silbergeschäft Wetzlar. Nach der Pogromnacht verabschiedete sie sich bei uns und wanderte dann aus.

Ich bin in Haidhausen aufgewachsen. Mein Vater sträubte sich dagegen, eine Hakenkreuzfahne aus dem Fenster zu hängen, obwohl so gut wie an jedem Haus eine zu sehen war. Das machte dem Rest der Familie Sorgen, weil wir nicht auffallen wollten. Wir Frauen haben den Vater so lange gedrängt, bis er eine ganz kleine Fahne gekauft und rausgehängt hat.

Als ich 24 Jahre alt war, habe ich in einem Lebensmittelgeschäft am Prinzregentenplatz ausgeholfen. Dort hatte Hitler ja auch seine Wohnung. Ab und zu haben wir ihn gesehen mit seinem Gefolge, die Mercedes-Limousinen und die baumlangen SS-Männer. Das war schon aufregend.

Braunes München - Protokoll der Zeitzeugin Elisabeth Honsell

Elisabeth Honsell.

(Foto: Oliver Das Gupta / oh)

Wenn Hitler da war, hat seine Haushälterin Anny Winter streng nach den Lebensmittelmarken eingekauft. Wenn er nicht da war, gab es Highlife. Da schwelgten sie im Überfluss und gönnten sich Essen und Trinken, von denen andere nur träumen konnten.

Eva Braun kam auch ins Geschäft. Wir wussten schon damals, dass das Hitlers Freundin ist. Einmal habe ich bestelltes Mineralwasser zu Hitlers Wohnung raufgetragen. Der machte selbst die Tür auf. Ich sagte 'Heil Hitler' zu ihm. Hinterher hat mich einer seiner Bewacher geschimpft: 'Du Rindvieh', sagte er, 'du hättest 'Heil mein Führer' sagen müssen.

1943 habe ich einen Polizisten geheiratet und bin ins Lehel gezogen. Während der Bombenangriffe haben wir unsere beste Kleidung angezogen und uns damit ins Bett gelegt. Ein Trupp von Kriegsgefangenen war in der Nähe untergebracht, etwa zehn Leute mit Schaufeln. Die mussten die Trümmer wegräumen und Blindgänger suchen. Ein deutscher Aufseher hatte das Kommando und misshandelte die Männer immer wieder.

Am 1. Mai war der Krieg aus, aber manche wollten nicht aufgeben. Der fanatische Vorgesetzte meines Mannes kam vorbei und forderte, dass er sich zum Dienst meldet. "Der geht nicht mehr aufs Revier", habe ich dem Polizeioffizier gesagt. Seine Uniform hatte ich eh schon verbrannt. Kurz danach kamen die Amerikaner aus der Richtung des Englischen Gartens zu uns in Lehel. Morgens hatte es geschneit. Darum saßen schwarze US-Soldaten auf der warmen Motorhaube ihrer Jeeps, weil sie so gefroren haben."

"Für meine Umgebung war ich als Kind einfach Luft"

Ernst Grube in Dachau, 2012

Ernst Grube.

(Foto: Niels P. Joergensen)

Ernst Grube, 82 Jahre

"Meine Geschwister und ich haben uns als Juden gefühlt, gerade weil wir deswegen ausgegrenzt wurden. Als kleineres Kind habe ich die größeren Zusammenhänge nicht verstanden. Aber ich spürte, dass etwas nicht stimmt. Ich erinnere mich auch an Hakenkreuzfahnen und SS-Uniformen in München, aber ich konnte dem keine Bedeutung zuordnen. Für mich war die totale gesellschaftliche Ablehnung schlimm. Für meine Umgebung war ich als Kind einfach Luft. Oder ich wurde angepöbelt von Nachbarskindern, die mich als 'Saujude' beschimpften.

Bis 1938 haben wir in einer Wohnung neben der Synagoge gelebt, die der israelitischen Kultusgemeinde gehörte. Nach dem Abbruch der Synagoge wurden die Wohnungen enteignet und, wie ich heute weiß, dem Lebensborn zur Verfügung gestellt. In Erinnerung ist mir, dass meine Familie zunächst dort geblieben ist, obwohl man uns Strom, Gas und Wasser abgedreht hatte.

Am 7. November brachten die Eltern uns Kinder - meinen Bruder Werner, meine vier Monate alte Schwester Ruth und mich - in das jüdisches Kinderheim in Schwabing.

Die übrig geblieben Kinder mussten ins Judenghetto

1942 wurde das Kinderheim in Schwabing aufgelöst, nachdem fast alle Kinder in Ghettos und Vernichtungslager deportiert und ermordet worden waren. Wir übriggebliebenen zehn Kinder mussten danach in das Judenghetto, in das Lager Milbertshofen. Ich erinnere mich, dass es dort kein Klo, sondern nur Latrinen gab, die von anderen Häftlingen geleert werden mussten. Es gab ein altes Kesselhaus in dem alte, teilweise verwirrte Menschen eingesperrt waren.

Sie hingen verzweifelt an den vergitterten Fenstern und schrien. Im Milbertshofener Lager gab es auch eine sogenannte Polenbaracke. Ich erinnere mich, dass die Bewacher einer polnischen Zwangsarbeiterin die Haare geschoren und sie durchs Lager gejagt haben. Das sind Szenen, die sich in meinem Gedächtnis eingebrannt haben. Nach Auflösung des Lagers in Milbertshofen im August 1942 kamen meine Geschwister und ich in die sogenannte 'Heimanlage für Juden' in Berg am Laim. Wir waren dort - wie in Milbertshofen - eingesperrt. Während wir im Antonienheim noch regelmäßig von den Eltern besucht wurden, gab es während dieser Lagerzeit, mit einer Ausnahme, keinen Kontakt zu den Eltern.

Mein Vater und meine Mutter fanden nach mühsamer Suche zwei kleine Zimmer in Untermiete in der Innenstadt.

Nachdem auch dieses Judenghetto fast leer deportiert worden war, wurde es, weil nicht mehr rentabel, aufgelöst. Nur aus diesem Grund konnten wir Kinder im Frühjahr 1943 wieder zurück zu den Eltern.

Juden war der Zutritt zu Luftschutzbunkern verboten

Ab 1943 gab es immer häufiger Fliegerangriffe. Juden war jedoch der Schutz durch Aufenthalt in öffentlichen Bunkern verboten. Ich erinnere mich, dass die Sirenen heulten und ich mich mit anderen Menschen im Luisenbunker in Sicherheit bringen wollte. Doch man ließ mich nicht hinein. Ich habe mich dann im nahen Alten Botanischen Garten unter einem Strauch verkrochen. Als die Bomben fielen, habe ich vor Angst gebibbert.

Mein Vater war Malermeister, ein sehr strenger Mann. Ich war und bin (...) sehr stolz auf ihn. Er hat sich trotz massivem Drucks der Gestapo nicht von seiner jüdischen Frau scheiden lassen. Alle Maßnahmen, die gegen Juden in Kraft waren, trafen auch uns: Sterntragen, kein Schulbesuch, keine Benutzung öffentlicher Einrichtungen, Zwangsarbeit...

Dadurch dass mein Vater so standhaft blieb, waren unsere Mutter und wir drei Kinder vorerst vor einer Deportation geschützt. Im Februar 1945 wurden wir dann doch noch ins KZ Theresienstadt deportiert. Meine Mutter ist dem Deportationsbefehl durch Krankmeldung nicht nachgekommen. Daraufhin wurden wir abgeholt und in die Gestapozentrale im Wittelsbacher Palais gebracht. Von dort ging es dann auf Transport. Der zurückbleibende Vater, sein Blick, das sind Momente, die im Gedächtnis bleiben.

Alle meine Verwandten mütterlicherseits, meine Tanten und Onkel, Cousinen und Cousins, insgesamt zehn Menschen, wurden nach Riga, Piaski und Izbica deportiert. Sie wurden dort in den Vernichtungslagern ermordet."

"Ich habe die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße brennen sehen"

Lieselotte Bach, 95 Jahre

Braunes München - Protokoll einer Zeitzeugin Lieselotte Bach

Lieselotte Bach

(Foto: Oliver Das Gupta / oh)

"Der Direktor meiner Schule, des Luisengymnasiums, war schon früh in die NSDAP eingetreten und trug mit Stolz sein goldenes Parteiabzeichen. Oft fiel die letzte Schulstunde aus wegen einer Feierstunde oder eines Vortrags, den irgendein Nazi-Funktionär gehalten hat. Da wurde zum Beispiel über Deutschlands Rolle im Ersten Weltkrieg gesprochen und versucht, uns für die nationalsozialistische Sache zu ermuntern. Im Unterricht wurde immer wieder betont, wie wichtig München für den Nationalsozialismus sei. Da klang schon Stolz durch. Oft war von der 'Hauptstadt der Bewegung' die Rede.

Am Königsplatz nahe meines Gymnasiums gab es oft Aufmärsche von SA, SS und der Hitlerjugend. Als Mitglied im Bund Deutscher Mädel wurde ich zusammen mit Kameradinnen während der Münchner Konferenz 1938 eingesetzt. Damals trafen sich Hitler und der italienische Faschistenführer Mussolini mit dem britischen Premierminister Chamberlain und dem französischen Ministerpräsidenten Daladier wegen der Sudetenkrise.

Wir mussten in der Prinzregentenstraße zu wildfremden Menschen in deren Wohnung im zweiten Stock gehen. Dort standen wir am Fenster und sollten aufpassen, dass niemand Blumensträuße auf die vorbeifahrenden Autos mit Hitler, Mussolini, Chamberlain und Daladier wirft. Und wir sollten denen zujubeln, was wir dann auch gemacht haben.

Wenige Wochen später, beim Pogrom vom 9. November 1938, habe ich die Synagoge in der Herzog-Rudolf-Straße noch brennen sehen. Unsere drei jüdischen Mitschülerinnen sind kurz danach nicht mehr in die Schule gekommen. Zwei konnten auswandern. Eine von ihnen namens Marianne überlebte in England. Wir haben sie nach dem Krieg zu Klassentreffen eingeladen. Aber sie wollte nicht mehr nach Deutschland kommen.

Tanzstunde mit späterem Widerstandskämpfer

Der Judenhass war in München deutlich sichtbar. Immer wieder war an Schaufenstern 'Jude' oder 'Juden raus' geschmiert. Nach dem Kriegsbeginn hat man dann jüdische Münchner mit dem gelben Stern an der Kleidung gesehen. Aber es wurden immer weniger.

1943 war ich Studentin und habe Parolen der Weißen Rose an einer Mauer gesehen. Da wusste ich noch nicht, dass ich einen der Widerstandskämpfer aus der Schulzeit kannte. Mit Alexander Schmorell hatte ich ab und zu getanzt, als wir 1937 in der Schwanthalerstraße einen Tanzkurs belegt hatten."

Wie Lieselotte Bach den Kriegsausbruch 1939 und und das Kriegsende 1945 erlebte.

"Es herrschte ein Klima der Angst"

Zeitzeugen der NS-Zeit in München: Walter Aigner

Walter Aigner

(Foto: Oliver Das Gupta)

Walter Aigner, 81 Jahre

"In Neuhausen, wo ich aufgewachsen bin, waren die Kasernen nicht weit. Oft sind Soldaten am Haus vorbeimarschiert und haben gesungen. Wenn wir in der Schule das Klassenzimmer betreten haben, mussten wir immer laut 'Heil Hitler' rufen und den rechten Arm hochreißen. In der Schule waren zum Unterrichtsbeginn die Lieder 'Die Fahne hoch' und 'Deutschland, Deutschland über alles' Pflicht. Dieses Ritual mussten wir bis zum Kriegsende machen, Tag für Tag, jeden Morgen.

Von unserem Haus war es nicht weit bis zum Königsplatz. Dort verehrten die Nazis die Toten ihres missglückten Putsches von 1923 im 'Ehrentempeln'. Als Kind bin ich an der Hand meines Vaters dort vorbeigelaufen und habe über die reglos davor stehenden SS-Männer gestaunt. Hinterher habe ich meinen Vater gefragt, ob das echte Menschen oder Statuen sind. Mein Geigenlehrer in der Nachbarschaft war von der SA. Ab und zu trug er beim Unterricht seine braune Uniform.

Angst vor dem Mann, der gegenüber lebte

An Nazi-Feiertagen wie am Jahrestag des Hitler-Putsches mussten Hakenkreuzfahnen aus jedem Fenster unseres Hauses gehängt werden. Da ging der Ortsgruppenleiter durch die Straßen und kontrollierte, ob das alle brav machen. Man hat sich immer gefürchtet vor dem Mann, der schräg gegenüber lebte.

Nach der Reichspogromnacht habe ich in der Innenstadt verwüstete Geschäfte gesehen. Die Straßenkehrer schoben die Scherben zusammen. Mit ihren Besenstielen schlugen sie die Reste der kaputten Schaufensterscheiben aus den Rahmen. Meine Eltern waren empört über die Gewalt gegen Juden.

Ein Verwandter, der Pfarrer Korbinian Aigner, wurde verhaftet, weil er Verständnis für den Hitler-Attentäter Georg Elser gezeigt hatte. Nach dem Gefängnis kam er ins KZ Sachsenhausen und danach nach Dachau. Dort hat er Apfelsorten gezüchtet und wurde deshalb Apfelpfarrer genannt.

Meine Familie war regimekritisch eingestellt. Furchtbar aufgeregt waren die Erwachsenen in unserem Haus 1941, nachdem der Krieg gegen die Sowjetunion begonnen hat. Es war klar, dass sie meinten, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden könnte. Unsere Eltern haben sich manchmal erschrocken, wenn wir Kinder etwas Kritisches gehört haben. Sie haben uns gesagt: Erzählt bloß nichts euren Freunden oder in der Schule, sonst werden wir abgeholt und sind nicht mehr da. Es herrschte ein Klima der Angst.

Mutter und Schwester im Keller verschüttet

1943 zog meine Familie zu Verwandten in die Nähe von Erding wegen der Fliegerangriffe. Als meine Mutter mit meiner vierjährigen Schwester noch einmal nach Hause gefahren war, gab es wieder einen Luftangriff. Eine Bombe, die wohl eine Flugabwehrstellung in der Nähe treffen sollte, zerstörte unser Haus komplett. Meine Mutter und die Schwester wurden im Keller verschüttet. Sie konnten sich retten, weil ein Durchgang zum Nachbarhaus geschlagen worden war.

Im selben Jahr rückte mein 18 Jahre alter Cousin zum Militär ein. Ich hatte ihn recht gerne und habe beim Abschied sehr geweint. Nach sechswöchiger Ausbildung musste er an die Ostfront und starb dort bald. Sein älterer Bruder kam mit einem Lungenschuss heim, musste wieder ins Feld und kam nie wieder. Der jüngste Cousin, damals 16, musste 1944 ins Wehrertüchtigungslager. Als er wiederkam, schien man ihm das Gehirn gewaschen zu haben. Er war voll und ganz davon überzeugt, dass wir den Krieg noch gewinnen.

Mehr Informationen zum NS-Dokumentationszentrum finden Sie auf dieser Übersichtsseite.

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