NS-Verbrechen:Dem Vergessen entreißen

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Systematisch wurden sie als "lebensunwert" diffamiert und ermordet. Viele Opfer kamen aus der Pflege- und Heilanstalt Eglfing-Haar

Von Carina Seeburg

Die Nachricht vom Tod ihrer Tochter traf Amalie Diem völlig unvorbereitet. "Lange stand meine Großmutter einfach da und hat geweint", erinnert sich Lisa Wanninger an den Tag im Jahr 1941, als der Brief ihre Familie erreichte. Amalie und Karl Diem wägten ihre Tochter sicher in der Pflegeanstalt im Franziskanerkloster Schönbrunn. "Niemand hatte sie darüber informiert, dass Thea kurzfristig nach Eglfing-Haar verlegt worden war", erzählt Wanninger weiter - "und sie waren hoch erstaunt, dass ihre Tochter im weit entfernten Hartheim gestorben war." An einer Lungenentzündung. So zumindest steht es in der Sterbeurkunde.

Amalie Diem ließ sich indes nicht täuschen. "Karl, unser Thea hams umbracht", habe sie zu ihrem Mann gesagt, erzählt Wanninger, die sich bis heute gut an ihre Tante erinnert, deren Tod und die Tragweite des Geschehenen sie als damals zehnjähriges Mädchen aber noch nicht einordnen konnte. Wanningers Tante war Patientin in der Pflegeanstalt Schönbrunn bei Dachau. 1941 wurde sie von dort zunächst in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar gebracht, anschließend per Zug nach Schloss Hartheim deportiert und dort kurz nach ihrer Ankunft im Alter von 33 Jahren ermordet. Sie war einer der mehr als 300 000 Menschen, die von den Nationalsozialisten als "lebensunwert" eingestuft und getötet wurden, weil sie behindert waren oder als psychisch krank galten. Der NS-Staat nannte den Mord "Euthanasie", "den guten, leichten Tod".

Thea Diem (zwischen ihren beiden Schwestern um 1917). (Foto: Lisa Wanninger)

Ihren Anfang nahm die systematisch-industrielle Ermordung von Menschen durch den NS-Staat am 18. Januar 1940. An diesem Tag verließ ein Transport mit 25 Männern die Anstalt Eglfing-Haar. Die Männer wurden nach Grafeneck in Württemberg gebracht und dort unmittelbar nach der Ankunft vergast.

Mehr als 80 Jahre sind seit dem Tag vergangen, der den Beginn eines hunderttausendfachen Mordens markiert. "Allein in Eglfing-Haar waren das zwischen 2000 und 3000 Menschen, darunter 332 Kinder", sagt Peter Brieger, ärztlicher Direktor der heutigen Klinik. Die Menschen wurden von Haar in die Tötungsanstalten Grafeneck oder Hartheim bei Linz in Österreich gebracht und dort in einer als Duschraum getarnten Gaskammer mit Kohlenmonoxid umgebracht. Viele Patienten starben aber auch in der Anstalt infolge der "dezentralen Euthanasie" durch gezielte Vernachlässigung und Unterernährung. Im Kinderhaus war die aktive Tötung mit Schlafmitteln keine Seltenheit.

Das entscheidende Selektionskriterium in der Anstalt Eglfing-Haar war die Arbeitsfähigkeit der Patienten. Wer im Anstaltsbetrieb keine Wäsche- und Kochdienste leisten konnte, hatte keine Überlebenschance. Das gleiche galt für jüdische Patienten.

"Thea konnte nicht arbeiten", erklärt Lisa Wanninger. Seit ihrem neunzehnten Lebensjahr habe sie an epileptischen Krampfanfällen gelitten. Ihre Mutter habe sie alleine nicht zu Hause pflegen können, und Theas Schwestern seien durch ihre eigenen Familien eingebunden gewesen. "Ihre Schwestern erzählten mir, dass Thea nicht nur die Hübscheste, Klügste, sondern auch die Flinkste der drei Mädchen war - ihre Schulaufgaben hatte sie oft schon in der Schule erledigt", berichtet Wanninger. Später sei sie täglich von Krampfanfällen geschüttelt worden. Bis dahin aber sei Thea ein ganz normales Mädchen gewesen.

"Wir sind uns unserer Verantwortung als Klinik bewusst", erklärt Brieger. Mitarbeiter der ehemaligen Anstalt hätten in der NS-Zeit zu den Verbrechen beigetragen oder sie durch Wegsehen und Unterlassen ermöglicht. Die Geschichte dürfe nicht vergessen und kein Schlussstrich gezogen werden. Welche Verantwortung ziehen wir aus den Ereignissen für unsere Gegenwart und Zukunft? Und wie erinnern und gedenken wir als Gesellschaft? Das seien Fragen, die klinikintern aber auch im Arbeitskreis "NS-Erinnerungskultur", der auf eine gemeinsame Initiative der Klinik und des Bezirks Oberbayern zurückgeht, bearbeitet würden.

"Wir müssen uns unserer Geschichte stellen, neue Fragestellungen aufwerfen und auch neue Bewertungen geben", erklärt Rainer Schneider, Vizepräsident des Bezirkstags. Noch immer wisse man zu wenig über die grauenhaften Geschehnisse in den Heil- und Pflegeanstalten während der NS-Zeit. Ziel sei die umfassende Aufarbeitung und eine Erinnerungskultur für den Bezirk und seine Einrichtungen zu gestalten.

Der Bezirk Oberbayern verfolgt außerdem die Idee, in Haar ein Deutsches Psychiatriemuseum zu schaffen, das zu einem zentralen Ort der Erinnerung an die Euthanasie-Verbrechen werden könnte. Bis ein solches Projekt umgesetzt werden könne, sei aber noch "ein weiter Weg" zu gehen, teilt Susanne Büllesbach, Leiterin der Pressestelle im Bezirk Oberbayern, mit.

Dass Vergessen keine Option ist, haben viele Verantwortliche in jüngster Zeit immer wieder betont. Über Jahrzehnte war die Aufarbeitung der Massenmorde zuvor vernachlässigt worden. Insbesondere in der Nachkriegszeit wurden Nachforschungen dadurch behindert, dass in den Kliniken vielfach dieselben Ärzte und Pfleger arbeiteten, die dort schon während der NS-Zeit tätig gewesen waren. Von den Verbrechen wollte später von ihnen kaum noch einer etwas wissen.

Nun soll den Angehörigen der Opfer die Nachforschung in Krankenakten im Archiv der Bezirksverwaltung erleichtert werden. "Erstmals gibt es einen Flyer, der bei der Recherche unterstützen soll", erklärt Büllesbach. Der Bezirk Oberbayern und das Isar-Amper-Klinikum zögen an einem Strang, um die Erinnerung an die Verbrechen der NS-Zeit wachzuhalten.

Die Großmutter von Josef Held war Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar und wurde von den Nationalsozialisten ermordet. (Foto: Alessandra Schellnegger)

"Der Umgang der Behörden mit dem Thema hat sich geändert", bestätigt Josef Held, dessen Großmutter Maria Weindl Patientin in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar war. Am 3. September 1940 wurde sie zusammen mit 120 anderen Frauen von der Klinik mit dem Zug nach Linz und von dort mit einem Bus nach Hartheim gebracht. "Bis vor ein paar Jahren war die Recherche schwierig und Krankenakten durften nur von den Kindern der Opfer eingesehen werden", erzählt Held von den Hindernissen auf der Suche nach Wahrheit und Klarheit. Vor etwa zehn Jahren dann sei er auf einer israelischen Website auf eine Liste von Euthanasie-Opfern aus Pflegekliniken gestoßen. Der Name und das Geburtsdatum seiner Großmutter gaben ihm endgültig Gewissheit - Maria Weindl wurde von den Nationalsozialisten ermordet.

Viele Jahre sei auch in der Familie nicht offen über seine Großmutter gesprochen worden. "Ein Tabu, das unausgesprochen wirkte", sagt Held. Die Namen der Opfer zu nennen und ihre Geschichten zu erzählen, empfinde er als Schritt dahin, "den Opfern wieder ihre Würde und ihren Platz in der Gesellschaft zu geben". Das Vergessen nicht zuzulassen, treibt auch Lisa Wanninger an, als Zeitzeugin immer wieder von den NS-Krankenmorden zu berichten und die Geschichte ihrer Tante zu erzählen: "Ich möchte, dass wenigstens Theas Name in Erinnerung bleibt."

© SZ vom 29.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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