Was bedeutet Erinnerung? Wer hat die Hoheit über die Deutung der Vergangenheit? Und: Wie lässt sich das Gespenst des Faschismus ein für alle Mal in die Geschichtsbücher verbannen? Um diese Fragen kreist die ganze Arbeit des NS-Dokuzentrums. Fünf Monate war es geschlossen, nachdem ein Anschlag im vergangenen Jahr, der dem Museum und dem benachbarten Israelischen Generalkonsulat gegolten hatte, neue Sicherheitsmaßnahmen notwendig machte. An diesem 8. Mai wurde es im Beisein einer großen Festgemeinde wieder eröffnet. Und zum Abschied bekam jeder ein Geschenk.
Erinnern, so betont Mirjam Zadoff, die Direktorin des Dokuzentrums, in ihrer Begrüßungsrede, sei kein abgeschlossener Prozess. Keine „gemütliche, badewasserlaue Annehmlichkeit“, wie Ruth Klüger es formuliert habe. Erinnerung, so die Schriftstellerin und Holocaust-Überlebende weiter, sei vielmehr „ein Graus, eine Zumutung und eine einzige Kränkung der Eigenständigkeit.“ Darum hätten die Menschen die Nostalgie erfunden, „den Kitsch der Erinnerung, die Verklärung, mit der wir so gern Blut, Schweiß und Kotze der wirklichen Gedächtnisprodukte verpacken.“
Klüger habe mit diesem Kitsch-Vorwurf auch Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren gemeint, die so täten, als gäbe es „einen abgeschlossenen Prozess des Erinnerns und Lernens aus der Geschichte“, so Zadoff. Sie selbst versteht ihre Gedenkstättenarbeit ganz anders: als ständige Herausforderung, sich mit der Realität auseinanderzusetzen. Und so landet, wer nach dem Umbau die Treppe in den ersten Stock hochgeht, unmittelbar in der Gegenwart: Eine Installation und ein Film dokumentieren die rechtsextremen Anschläge seit 1945 in München – es sind mehr als in jeder anderen deutschen Stadt.

NS-Dokumentationszentrum in München:Tatort und Erinnerungsort: Warum Geschichte nie vergeht
Vor zehn Jahren eingeweiht, öffnet das NS-Dokumentationszentrum in München am 80. Jahrestag des Kriegsendes nach fünfmonatigem Umbau erneut seine Türen. Besucher werden überrascht sein.
Museen und Gedenkstätten, so Zadoff, stünden für die ästhetische Umsetzung eines Auftrags, den Hannah Arendt nach Krieg, Genozid und Diktatur so formulierte: „eine Absicherung nach innen wie nach außen, keine Verletzungen mehr zuzulassen und vulnerable Minderheiten zu schützen.“
„Allein die Tatsache, dass es dieses Haus überhaupt gibt, dass wir diese Arbeit machen dürfen, ohne Einschränkungen und Einmischungen einer Regierung, ist nicht selbstverständlich“, so Zadoff. Diese Freiheit sei von vielen Menschen hart erkämpft worden. Wer durch die Ausstellungen geht, lernt, wie viele Widerstände nach dem Krieg, aber auch noch bis in dieses Jahrtausend zu überwinden waren.

Oberbürgermeister Dieter Reiter knüpft an diesen Gedanken an. Er erinnert an den 8. Mai als Tag der Befreiung von der NS-Diktatur. Es sei erschreckend, so der OB, dass laut einer aktuellen Umfrage 55 Prozent der Deutschen einen Schlussstrich unter diese Geschichte ziehen wollten. All diesen Menschen legt er ein Zitat des Zeitzeugen Max Mannheimer ans Herz: „Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon.“
Die Rede der Journalistin Marina Weisband zum 80. Befreiungstag des KZ Buchenwald sei ihm nahe gegangen, so Reiter. Sie beschrieb, wie Faschismus lange nicht erkannt werde. Weil die meisten davon ausgingen, dass „der Himmel sich bedrohlich grau zuzieht. Dass Banner ausgerollt werden. Aber das passiert nicht. Wenn der Faschismus kommt, scheint noch immer die Sonne. Die Vögel singen. Sie gehen zur Arbeit. Alles ist normal. Nur trans Menschen verlieren ihre Rechte. Und Asylsuchende. Und Immigranten. Und Behinderte. Und Muslime. Und Juden. Und linke Journalisten. Und dann andere Journalisten. Und ich. Und Sie. Und niemandem ist mehr klar, wann es eigentlich zu spät wurde.“ Bei dieser Passage, so Reiter, „laufen mir kalte Schauer über den Rücken.“

Das Foyer des Dokuzentrums ist rappelvoll, die meisten müssen aus Platznot stehen. Reiters Stellvertreter Dominik Krause und Kulturreferent Marek Wiechers sind da, Stadträtinnen und Landtagsabgeordnete, Künstler, Leihgeber und Architekten, die Nachbarinnen - die Generalkonsulin des Staates Israel Talya Lador Fresher und die Präsidentin der Hochschule für Musik und Theater Lydia Grün -, auch Mitglieder der Familien Mannheimer, Pringsheim und Koedoot sind gekommen. Und Ernst Grube. Der feine, alte Herr ist auch mit 92 Jahren als Zeitzeuge gefragt und ein geduldiger Gesprächspartner. Er hat der neuen Ausstellung den „Judenstern“ gespendet, den er als Kind tragen musste. Seine Mutter war Jüdin, der Vater Kommunist.
Jetzt geht er für die Fotografen nach draußen, setzt sich auf die Holzbank und plaudert angeregt mit dem früheren Bundesfinanzminister Theo Waigel, Gründungsmitglied des NS-Dokuzentrums, über alte Zeiten. Jedes Mal, wenn er hier vorbei komme, so Waigel, freue er sich über die positive Entwicklung des Hauses.
Zum Abschied bekommt jeder ein Grundgesetz. „Die Menschen, von denen diese Ausstellung erzählt, hätten ein anderes Leben geführt, wäre ihnen das Glück beschieden gewesen, in einem Land zu leben, das von einer Verfassung wie dieser geschützt wurde“, gibt Mirjam Zadoff mit auf den Weg. Bei Artikel 21, in dem über die Rechte und Pflichten der Parteien gesprochen wird und darüber, was passiert, wenn Parteien sich nicht an die Verfassung halten, gibt es ein Lesezeichen. Auf diesem Einleger ist die Entscheidung des Verfassungsschutzes dieser Woche zitiert, wonach die AfD als gesichert rechtsextremistisch gilt. Der Verfassungsschutz hat sich allerdings just an diesem Tag dazu verpflichtet, diese Einstufung bis zu einer Entscheidung des Gerichts über den Eilantrag der AfD auszusetzen.