Notfallmedizin für Kinder:Wenn kranke Kinder nicht mehr versorgt werden können

Notfallmedizin für Kinder: In der Haunerschen Kinderklinik steht eine ganze Station leer - es gibt zu wenig Personal, um sie zu betreiben.

In der Haunerschen Kinderklinik steht eine ganze Station leer - es gibt zu wenig Personal, um sie zu betreiben.

(Foto: Catherina Hess)

Mittlerweile passiert es fast täglich, dass Münchner Kliniken Notfälle ins Umland schicken müssen. Dabei gäbe es genug Ausstattung.

Von Inga Rahmsdorf

Rettungssanitäter wollen einen schwer verletzten Jungen nach einem Verkehrsunfall in ein Krankenhaus bringen. Doch alle Intensivstationen in den Münchner Kliniken haben sich abgemeldet, das Kind wird in ein Krankenhaus nach Augsburg geflogen.

Ein Vater kommt mit seiner Tochter in die Notaufnahme, das Kleinkind ist vom Klettergerüst gefallen, Gehirnerschütterung, das Mädchen übergibt sich. Alle Betten sind belegt, in den anderen Münchner Kliniken auch, die Ärzte schicken das Kind nach Starnberg.

Ein Baby hat einen epileptischen Anfall, seine Lippen laufen blau an. Der Notarzt kann es nicht in die nächste Klinik bringen, in dem das Baby bereits mehrfach behandelt wurde. Sie ist bereits überbelegt.

Solche Situationen sind keine Einzelfälle mehr in München. Ärzte, Krankenpfleger, Rettungssanitäter und Eltern berichten davon. "Wir mussten schon schwerst kranke Kinder nach Traunstein und Landshut bringen, weil es in dieser Stadt einfach keine Möglichkeit mehr gab, ein krankes Kind zu versorgen", sagt Florian Hoffmann, Oberarzt der Intensivstation der Haunerschen Kinderklinik. Er ist auch im Notdienst unterwegs und hat dabei schon erlebt, dass er nach der Reanimation eines Kindes 25 Minuten warten musste, bis die Leitstelle einen freien Klinikplatz durchgeben konnte. "In den vergangenen Monaten waren die Intensivstationen aller Kinderkliniken die meiste Zeit über abgemeldet", sagt er. Hoffmann und seine Kollegen mussten 15 Prozent aller Notfälle ablehnen. "Die Grundversorgung kranker Kinder ist nicht mehr gewährleistet", sagt der Arzt. "Wir haben ein ganz ernstes Problem und steuern auf eine Katastrophe zu."

Das Absurde dabei ist: Eigentlich hat München eine hervorragende medizinische Versorgung. Es gibt etwa 50 Kliniken, und viele von ihnen können sich zu den besten in Deutschland oder sogar weltweit zählen. Patienten aus dem gesamten Bundesgebiet und dem Ausland reisen an, um sich behandeln zu lassen, gerade bei komplizierten Operationen und schweren oder seltenen Krankheiten.

Auf der Internetplattform Ivena der Münchner Leitstelle kann man live verfolgen, wie sich ständig Kliniken abmelden, weil sie keine Patienten mehr aufnehmen können. Wenn dort für einen medizinischen Bereich bei allen Kliniken ein roter Balken aufleuchtet, gibt es keine freien Kapazitäten mehr. Viele Abteilungen der Kinderkliniken sind häufig abgemeldet, aber auch Notaufnahmen anderer Krankenhäuser. Das bekommen auch die Rettungssanitäter zu spüren. "Ich erlebe immer häufiger, dass wir eine Klinik zugewiesen bekommen, aber wenn wir in der Notaufnahme ankommen, ist die überbelegt, und wir müssen mit dem Patienten weiterfahren", sagt Christine Rother, die seit 30 Jahren als Notfallsanitäterin arbeitet. Das birgt nicht nur für die Patienten ein gesundheitliches Risiko; es ist auch für die Rettungskräfte und Ärzte eine große Belastung und kostet viel Zeit. "Wenn bei uns alles belegt ist, verbringen unsere Assistenzärzte in der Notfallversorgung mittlerweile viel Zeit mit Telefonieren, um eine Klinik zu finden", sagt Martina Heinrich. Die Oberärztin arbeitet seit knapp 20 Jahren in der Haunerschen Kinderklinik. Dass ein Patient weggeschickt werden muss, sei früher die Ausnahme gewesen.

Heute komme es fast täglich vor. Ein Besuch in der Haunerschen Kinderklinik: Viele Ärzte hier zählen bundesweit zu den renommiertesten ihres Faches. Das Uni-Krankenhaus der LMU liegt mitten in der Stadt, ein Altbau an der Lindwurmstraße. Seit 2013 ist ein Neubau in Großhadern geplant, es gab einen Architektenwettbewerb, der Baubeginn sollte 2018 sein. Doch das Projekt wurde verschoben, Zeitpunkt ungewiss. Es werden derzeit Pläne vorbereitet, heißt es von offizieller Seite.

"Wir arbeiten nur noch am Limit"

In der dritten Etage der Klinik ist die kinderchirurgische Abteilung. Michael Berger eilt über den Flur. Der Oberarzt hat vier Jahre in den USA gearbeitet. Als er zurückkam, war er schockiert über die Zustände und den geringen Stellenwert der Kindermedizin in Deutschland. Sein Handy klingelt. Ob bei ihm noch ein Bett frei sei, fragt ein Kollege von einer anderen Abteilung. Ein Notfall, ein Kind, das heute noch operiert werden muss. "Leider nein, wir sind auch überbelegt", antwortet Berger. 16 Kinder sind auf der Station, vom Säugling bis zum Jugendlichen, viele von ihnen sind schwer krank. Wer infektiös ist, liegt allein im Raum, sonst in Zwei- oder Dreibettzimmern. Oft schläft noch ein Elternteil mit im Raum. Dabei würden viele Tumorpatienten nach der Operation von der Ruhe im Einzelzimmer profitieren, sagen die Ärzte. Doch es mangelt an Betten.

Wobei Bettenmangel eigentlich nicht der richtige Begriff ist. Es gibt auf der gleichen Etage noch eine Station, die Chirurgie 3. Während auf der Chirurgie 2 Hochbetrieb herrscht, liegt der Flur nebenan verwaist da. Die Chirurgie 3 steht leer. Dabei ist sie voll ausgestattet, von den Betten bis zu den Überwachungsbildschirmen. Alles da. Nur keine Patienten. Es fehlt schlichtweg das Personal, um sie zu betreuen. Wenn man mehr Krankenpfleger hätte, könnte man mehr Betten belegen - das hört man in fast allen Kliniken Münchens, von der Chirurgie bis zur Onkologie.

"Wir arbeiten nur noch am Limit", sagt Sandra Meier, eine Kinderkrankenpflegerin, die nicht mit ihrem wirklichen Namen genannt werden möchte. Oft habe sie nicht einmal Zeit, um auf die Toilette zu gehen, geschweige denn eine Pause zu machen. Sie arbeitet in Teilzeit und würde gern weiter reduzieren, weil die Belastung so hoch ist. "Doch dann müssen meine Kolleginnen noch mehr arbeiten." Wenn sie krank ist, hat sie Gewissensbisse. Und wenn sie ihre Überstunden abbauen würde, müssten noch mehr Betten geschlossen werden.

In ganz Deutschland herrscht Pflegemangel, in München ist er aufgrund der Lebenshaltungskosten besonders eklatant. Dementsprechend groß ist auch die Konkurrenz unter den Kliniken. Das städtische Klinikum bietet bis zu 8000 Euro für jeden neuen Mitarbeiter. Früher hießen sie Schwestern, heute Pfleger, aber es sind immer noch überwiegend Frauen. Sie tragen eine große Verantwortung, der Druck und die medizinischen Anforderungen wachsen. "Der Gedanke ist immer da, ob ich gehen soll. Aber ich liebe diese Klinik", sagt Meier. "Was können wir machen?", fragt eine Kollegin verzweifelt. Streiken, sich krankschreiben lassen, kündigen? Alles undenkbar, weil sie wissen, die Leidtragenden sind immer die kranken Kinder.

Als Dietrich von Schweinitz vor 15 Jahren die Leitung der Chirurgischen Kinderklinik übernahm, gab es 62 Betten. Heute sind es 32. Offiziell. Aufgrund von Personalmangel können nur 18 belegt werden, seit Anfang April sogar nur 16. Die Zahl der Betten steht und fällt mit der Zahl der Krankenpfleger. Die Situation habe sich deutlich verschärft, sagt der Professor. Neben dem akuten Pflegenmangel in München sieht er noch einen weiteren Grund dafür: Kindermedizin werde in Deutschland nicht angemessen bezahlt. "Eine Uni-Kinderklinik kann gar nicht schwarze Zahlen schreiben", sagt von Schweinitz, zumindest nicht bei dem derzeitigen Vergütungssystem. Das sieht man auch daran, dass es in München viele Privatkliniken gibt. Keine einzige davon ist eine Kinderklinik. Weil Kinderkliniken im betriebswirtschaftlichen Gesamtplan einer Uni-Klinik als Minusfaktor auftauchen, wird dort besonders rigoros gespart. 25 Prozent der Arztstellen seien ihm in den vergangenen zehn Jahren gestrichen worden, sagt von Schweinitz. Und ein Drittel der Anästhesie und OP-Kapazitäten.

Kindermedizin ist aufwendiger, sie braucht mehr personelle und zeitliche Ressourcen. Die Personalkosten in Kinderkliniken, die etwa 85 Prozent der Gesamtkosten ausmachen, liegen etwa 30 Prozent höher als in der Erwachsenenmedizin, heißt es im Deutschen Ärzteblatt vom März. Berücksichtigt wird das jedoch nicht. Die Krankenkassen zahlen nach Fallpauschale. Einem Erwachsenen kann der Arzt sagen, er solle 20 Minuten für eine Kernspintomografie stillhalten. Ein Kind muss dafür in Vollnarkose gelegt werden.

Diese Schwierigkeiten kennt Birgit Kammer. Die Oberärztin leitet die Kinderradiologie und arbeitet seit 30 Jahren am LMU-Klinikum. Sie hat gerade bei einem Kind eine Blase geröntgt, eigentlich ganz simpel. Doch statt einer halben Stunde wie bei einem Erwachsenen, hat die Untersuchung mit Gespräch zwei Stunden gedauert. Ein zweijähriges Kind lässt sich nicht eben schnell röntgen. "Ökonomisch ist es der reinste Wahnsinn", so Kammer. "Aber Kinder haben die gleichen Rechte wie Erwachsene, diagnostiziert zu werden."

Kammer mag ihre Arbeit, die Klinik sei großartig, ein tolles Team. Aber die Situation habe sich dramatisch verschärft, die Belastung steige immer mehr. Arbeitstage von zehn bis zwölf Stunden seien die Regel, dazu pro Monat etwa neun Rufbereitschaftsdienste nachts und am Wochenende. Bei ihr fehlt so viel Personal, dass die Radiologie am Wochenende nachts schließen muss. "Es kann doch nicht sein, dass in der reichsten Großstadt Deutschlands akut kranke Kinder nicht mehr versorgt werden können", sagt von Schweinitz. "Die Frage ist: Was wollen wir uns als Gesellschaft für unsere Kinder leisten?"

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