Not in der Großstadt (8):Gefangen in Neuperlach

Warum kaum ein Jugendlicher, der die Albert-Schweitzer-Hauptschule besucht, einen Ausbildungsplatz findet.

Christian Rost

Von der Hauptschule in der Albert-Schweitzer-Straße zur Menterschwaige sind es acht Kilometer. 16 Minuten dauert die Fahrt mit dem Auto, man lässt die grauen Wohnsilos in Neuperlach hinter sich, überquert auf einer riesigen Asphaltrampe die Salzburger Autobahn und sieht unterwegs an fast jeder Kreuzung Polizeistreifen, die um die Justizvollzugsanstalt Stadelheim herum patrouillieren. Auf der schnurgeraden Straße geht es weiter, vorbei am ehemaligen Army-Supermarkt, dessen Fassade auf breiter Front bröckelt, und dann kommt man in eine richtig beschauliche Gegend.

Neuperlach

Das Neuperlacher Panorama.

(Foto: Foto: Heddergott)

In Harlaching ist viel Platz. Hier leben vielleicht zwei oder drei Familien in den Häusern und nicht 60 wie drüben in den Betonblöcken. Und je näher das Hochufer der Isar kommt, desto größer und grüner sind die Gärten. Vom Biergarten Menterschwaige kann Thomas, der heute von Neuperlach hierher gefahren ist, direkt hinunter auf den Fluss blicken.

Den Weg nach Harlaching legt er bald täglich zurück, es dauert dann allerdings etwas länger, weil er U- und Straßenbahn nimmt. Im Sommer beginnt der 15-Jährige eine Ausbildung zum Koch in dem ehemaligen Gutshof Menterschwaige, in dem, wie die Wirtin fröhlich sagt, ,,der FC Bayern ein- und ausgeht''.

Star mit Lehrvertrag

An diesem sonnigen Dienstag aber ist Thomas der Star. Er unterschreibt seinen Lehrvertrag, und ein ZDF-Team filmt die kleine Zeremonie im Biergarten fürs Mittagsmagazin. Thema: Thomas hat einen Ausbildungsplatz! Für jemanden von seiner Schule, der Albert-Schweitzer-Hauptschule in Neuperlach, ist das eher ungewöhnlich. 90 Prozent der 150 Jugendlichen in den Abschlussklassen der Schule, die wegen des schwierigen sozialen Umfelds Brennpunktschule genannt wird, gehen bei der Lehrstellenvergabe leer aus - jedes Jahr.

Die Kochjacke ist Thomas etwas zu groß, der Trubel ist ihm sichtlich unangenehm. Er lächelt tapfer in die Kamera, spricht aber nicht viel, und wenn ihn jemand fragt, wie er sich nun fühle, sagte er kurz: ,,Gut.'' Neben ihm sitzen Ingeborg Gruner und Albert Hermann. Die beiden haben Thomas in die Menterschwaige gebracht. Nach einem Aufruf des Jugendamtes im Herbst meldeten sie sich als ehrenamtliche Job-Mentoren. ,,Alte Hasen suchen für Hauptschüler Jobs'', stand über das Projekt in der SZ.

Die ehemalige Gymnasiallehrerin und der IT-Experte im Ruhestand kamen als Team an die Albert-Schweitzer-Schule. Die Aufgabe schien ihnen lösbar: Bei Firmen um Lehrstellen werben, die Schüler nach ihren Wünschen fragen - ,,da müsste schon was zusammengehen'', sagte sich Hermann. Es ging aber gar nichts. Dafür, dass nun wenigstens Thomas eine Lehre machen kann, spendierte ihnen der Projektleiter im Jugendamt sogar eine Flasche Champagner. Dort gibt man sich keinen Illusionen mehr hin.

Als Gruner und Hermann bei Münchner Firmen anklopften, erzielten sie überraschende Erfolge. 103 Ausbildungsplätze in 22 verschiedenen Berufen brachten sie für ihre 150 Schüler zusammen: Friseurin, Lackierer, Trockenbauer, Schreiner. Eine Woche hingen die Mentoren am Telefon, Handwerkskammer und Industrie- und Handelskammer unterstützten sie mit Adressen: ,,Wir dachten, das wird schwierig, an den Firmen lag es aber nicht'', sagt Hermann.

Erst als sie mit ihren Listen stolz in die Klassen marschierten, merkten sie, dass es ,,nicht so fluppt, wie wir dachten'', erzählt Gruner: ,,Die Berufe, die wir gefunden haben, fand niemand attraktiv.'' Die Frau, die 28 Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte, mühte sich redlich, der Jugend die Jobs zu versüßen, sprach immer wieder von ,,Eurer Zukunft''. In einer Klasse verlor sie dann doch die Nerven. ,,Ich bin raus und hab' die Tür zugeknallt, weil die Schüler so wenig interessiert waren.''

Traumberuf Kampfpilot

Albert Hermann klappt eine braune Ledermappe auf, holt eine Liste hervor und liest vor. Er könne es noch immer nicht fassen, welche Vorstellungen die Hauptschüler vom Berufsleben hätten. Die Jugendlichen wollten Tierärztin, Kampfpilot oder Designer werden, ,,wie sie es jeden Tag im Fernsehen sehen''. Sie wüssten nicht einmal, dass man Abitur und Studium für gewisse Berufe brauche. ,,Dabei werden die wenigsten den Quali schaffen.''

Hermann wühlt erneut in seinem Stapel selbstgefertigter Statistiken: 58 ,,Traumberufe'' hätten die Neuperlacher Hauptschüler ihrerseits genannt, und nachdem man ihnen die Träume ausgeredet habe, seien als Wünsche noch immer ausschließlich Berufe übrig geblieben, ,,bei denen sich niemand die Finger schmutzig machen muss''. Kinderpflegerin, Arzt- oder Rechtsanwaltsgehilfin für die Mädchen und Elektroniker und Mechatroniker bei den Jungen.

Die Betriebe brauchen aber Nachwuchs am Bau und bei der Gebäudereinigung. Ergab sich für einzelne Schüler doch noch ein passendes Angebot, taten sich individuelle Schwierigkeiten auf: Als sich eine junge Türkin für eine Stelle als Bürokauffrau bewarb, lehnte das Unternehmen ab. ,,Türkinnen'', lautete die Begründung, ,,sind oft krank und fehlen ständig wegen Todesfällen in der Familie.''

Das Mädchen war am Boden zerstört. Doch solche Erfahrungen und die Aussicht, womöglich bald wie rund 6000 andere Jugendliche in München ohne Job dazustehen, schreckt die Schüler nicht. Einige Jugendlichen hätten nach einigem Drängen zwar mit Müh und Not Bewerbungen für die freien Stellen aufgesetzt, sie aber nicht abgeschickt, berichtet Gruner. ,,Sie hatten tausend Ausreden, mal ging angeblich der Drucker vom Computer nicht, mal hatten sie die Schreiben irgendwo liegen gelassen. Wir können ihnen doch nicht auch noch die Kuverts zur Post bringen'', ruft Gruner in die Biergartenidylle hinein.

Antriebsarmut allenthalben

Das Verhalten erklärt sie sich mit ,,Antriebsarmut''. An Gymnasien sei das gar nicht so sehr viel anders. ,,Allerdings haben Gymnasiasten eben ein paar Jahre mehr Zeit, um sich zu entscheiden.'' Und wer dann noch immer nicht wisse, was er werden wolle, ,,der studiert halt irgendwas''. Die Hauptschüler schlitterten mit ihrer Haltung indes direkt in Arbeitslosigkeit und Armut hinein, sagt Gruner sichtlich verzweifelt. Ihr Teamkollege Hermann versucht es noch mit Optimismus: Im nächsten Jahr, sagt er und zeigt auf seine Listen, werde es besser klappen. Da habe man mehr Erfahrung und kenne die Probleme. Doch kennt man die Probleme drüben in Neuperlach wirklich?

Katalin Levai lebt dort. Sie ist Thomas' Mutter und hat ,,noch vier weitere Buben im Alter von zehn bis 22 Jahren in diesem Umfeld groß gebracht''. Zwei Söhne sind am Gymnasium, einer hat die Mittlere Reife, einer ist bei BMW, und Thomas wird nun Koch. Die Levais wohnen in einem dreizehnstöckigen Bau im typischen Neuperlacher Einheitsgrau.

In jedem Stockwerk sind es fünf Familien. Es ist ein seltsames Haus: Ein Mitbewohner hat zum Beispiel die Eigenheit, im Treppenhaus Unmengen von Kerzen aufzustellen. ,,Er will böse Geister vertreiben'', erklärt Katalin Levai, ,,der ist nicht ganz normal.'' Andere würden regelmäßig Schießübungen im Innenhof veranstalten. ,,Ich erschrecke jedesmal, wenn's knallt.'' Und der ganze Dreck im Treppenhaus! Nein, sagt die fünffache Mutter, einfach sei das Zusammenleben nicht in so einem großen Haus. Es liege aber weniger an den viele Nationalitäten, die aufeinander träfen. Es sei das schwierige soziale Gefüge. ,,In Neuperlach sind viele mit dem Sozialgeld zufrieden.''

Die Familie Levai durchlebt selbst schwierige Zeiten. Katalin Levai und ihr Mann stammen aus Ungarn. In den 70er Jahren kamen sie nach München. Er arbeitete Jahrzehnte lang als Chemiker für einen Pharmakonzern, bis man ihm kündigte. Seinen Hinweis auf die Familie, die er zu ernähren habe, quittierten die Chefs mit den Worten: ,,Kinder sind Privatsache.'' - ,,Das war eine amerikanische Firma'', fügt die Mutter mit wissendem Blick an.

Die Levais schaffen es, indem der Mann Schülern Nachhilfeunterricht gibt und die Frau im Kindergarten kocht. Sie kocht zuerst morgens von sieben bis neun Uhr für die eigene Familie und dann für die Kindergartenkinder. ,,Ich mache das nicht aus Spaß, ich muss arbeiten. Stellen sie sich vor: Meine Kinder haben jeden Tag Hunger.'' Die Belastung spürt die Frau abends: ,,Ich schaffe vielleicht noch zwei Seiten im Buch, dann schlafe ich ein.''

Dennoch haben sie und ihr Mann auch immer versucht, die Kinder zu fordern: Man müsse die Latte höher hängen, damit sie rumturnen könnten. Ohne Förderung gingen sie verloren. Das gelte, sagt die Mutter, besonders für die Schule. Kinder müssten lernen, dass Noten wichtig seien. ,,Lässt man sie allein, spielen sie am Computer und leben in einer Traumwelt.'' Thomas ist Realist geworden: ,,Ich kann doch nicht rumhängen, während sich meine Eltern abrackern.''

21 Kinder aus 22 Nationen

Rudolf Wenzel fühlt sich wohl in Neuperlach. Der 55-Jährige kam aus einer mittelfränkischen Kleinstadt hierher, ,,in deren Beschaulichkeit ich absolut unglücklich war''. Seit 23 Jahren führt der Schulrektor nun ein Leben mit ständigen Herausforderungen. Als Leiter der Albert-Schweitzer-Hauptschule ist er für rund 500 Kinder und Jugendliche verantwortlich. Der Anteil an Migranten unter den Schülern beträgt 80 Prozent, und auch bei den meisten der anderen Schüler spielt der Migrationshintergrund eine Rolle.

Im Chor mit 21 Kindern sind 22 Nationalitäten vertreten - weil ein Schüler die doppelte Staatsangehörigkeit besitzt. Wenzel zeigt auf eine Weltkarte in seinem Büro: ,,Von Kasweiß bis Kohlrabenschwarz haben wir alles da.''

Das Multikulti in seiner Schule empfindet er als ,,absolut bereichernd''. Die Herkunft der Kinder sei jedenfalls nicht das Problem. Dass nur zehn oder 15 Schüler eines Abschlussjahrgangs eine Lehrstelle finden, sieht er vielmehr im sozialen Teufelskreis Neuperlachs begründet. Die Hälfte der Eltern sei vom Büchergeld befreit.

Dies bedeutet, dass die Familien Hartz-IV-Empfänger sind, Wohngeld beziehen oder sonstige staatliche Hilfen bekommen. Aus eigener Kraft können sie sich jedenfalls nicht über Wasser halten. ,,Und ich bezweifle, dass bei den anderen 50 Prozent alles in Ordnung ist'', sagt Wenzel. Frauen machten drei Putzjobs, und der Vater arbeite nachts zusätzlich. ,,Viele Familien führen ständig einen Kampf ums Überleben.'' Die Letzten habe es getroffen, als die Sozialhilfe in Hartz IV umbenannt worden sei.

In der Schule ist die Armut offensichtlich - besonders in der Zeit von 10 bis 11 Uhr. Der Rektor hat eine zweite Pause eingeführt, um tumultartige Szenen am Kiosk zu verhindern. ,,Die Kinder kommen hungrig in die Schule. Von Zuhause bekommen sie zwar 50 Cent in die Tasche gesteckt, aber die Eltern sind nicht in der Lage, etwas in den Kühlschrank zu stellen, damit die Kinder frühstücken können.'' Spürbar mehr Schüler sind seit einigen Jahren für den Hauswirtschaftsunterricht angemeldet, ,,damit sie einmal in der Woche was Vernünftigen zu essen bekommen und nicht nur Nudeln mit Öl und Ketchup'', sagt Wenzel.

Dabei ist der Hunger längst nicht seine größte Sorge: Es gebe immer wieder Schüler mit extremen psychischen Auffälligkeiten wegen ,,Kriegserfahrungen, Gewalt oder Missbrauch durch Vater und Onkel''. Die Politik wolle dies alles nicht sehen: Nur 1,25 Stellen für Schulsozialarbeit sei der Schule nach Jahren des Streits zuerkannt worden. Desinteresse bei den Eltern

So sind die Jugendlichen auch beim Übergang von der Schule in den Beruf völlig auf sich allein gestellt. Die Eltern zeigten in erschreckendem Ausmaß wenig Interesse, was auch ihrem Nachwuchs werde, sagt der Rektor. ,,Woher sollen es die Kinder denn selbst wissen, und noch dazu im Alter von 15 oder 16 Jahren, wenn sie sich für einen Beruf entscheiden müssen?''Die Schule könne die mangelnde Unterstützung zu Hause nur bedingt ausgleichen. Berufsvorbereitung im Unterricht machten seine Lehrer ohnehin schon ,,bis an die Schmerzgrenze''.

Hoffnung macht sich der Rektor keine. Auch in der kommenden Elterngeneration könne er ,,keine Ansätze für eine günstigere Entwicklung'' erkennen. Die ehemaligen Schülerinnen kämen nun als Mütter mit ihren Kindern zu ihm - und die Probleme seien die gleichen. ,,Man muss es leider sagen: Der Begriff Prekariat trifft es eigentlich.''

Wenzel schmerzt es, dem Stillstand zusehen zu müssen. Und er ärgert sich, weil die zunehmende Verwaltungsarbeit in der Schule alle Zeit auffresse. Als Fachgruppenleiter der Rektoren im Münchner Lehrer- und Lehrerinnenverband hört er auch vielen Kollegen klagen. Verantwortlich für die Entwicklung sei das Kultusministerium. Man könne nicht mehr den dringend notwendigen Förderunterricht organisieren, weil die Schulen ständig mit Antragsformularen zugeschaufelt würden. Leiden müssten darunter letztlich die Schüler: Mit mangelnden Deutschkenntnissen seien ihre Leistungen auch in anderen Fächern schlecht.

Da die Unterstützung für die Brennpunktschule nicht ausreicht, versucht es der Rektor mit eigenen Mitteln. ,,Das Wichtigste ist, die Kinder erstmal auf die Beine zu stellen, ihr Selbstbewusstsein aufzubauen. Sie glauben ja nicht an sich.'' Entwickelt wurde dafür ein möglichst abwechslungsreichen Schulalltag, mit Angeboten wie Schülerzeitung, Chor, Musik, Tanz, Theater und einem Streitschlichterprogramm im Zuge der Sozialarbeit. ,,Dadurch hat sich das Klima schon total verändert.''

Von einem Ganztagsangebot an der Hauptschule indessen hält Wenzel nichts. Kinder von 8 bis 17 Uhr einzusperren, ohne ausreichend Lehrer und Geld bereit zu stellen, ,,sei Anstiftung zum Totschlag''. Die Kinder sollten sich am Nachmittag regenerieren können. Weil vielen Familien und Jugendlichen der MVV zu teuer sei, fehle es ihnen aber an Mobilität und damit an Abwechslung. Wenzel fordert deshalb billige Tickets speziell für sozial Schwache. ,,Die Leute müssten mal dringend raus hier und etwas anderes erleben als immer nur Neuperlach.''

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