Nizza:Zuflucht in höchster Not

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Junger Münchner bringt nach dem Anschlag in Südfrankreich panische Menschen in Sicherheit

Von Cathrin Kahlweit, Nizza

Seine Wohnung direkt am Strand von Nizza, oberster Stock, Balkon mit Blick aufs Meer, ist Ulrich Lehmann immer schon wie ein schönes Geschenk vorgekommen. In der Nacht von Donnerstag auf Freitag war sie ein Geschenk besonderer Art - für panische, verängstigte Menschen. Lehmann, ein 23-jähriger Münchner, der in Südfrankreich als Immobilienmakler sein Geld verdient, hat daraus einen Schutzraum für mehr als 30 Menschen gemacht, die nach der Katastrophe schreiend und weinend am Restaurant vor seinem Wohnhaus vorbeirannten, in dem er gerade noch mit seiner Freundin das Feuerwerk zum Nationalfeiertag bestaunt hatte.

Keiner der Gäste im Restaurant wusste, was geschehen war, keiner verstand anfangs, warum immer mehr Menschen gerannt kamen, warum sie ihre Kinder hinter sich herschleiften, Babys aus den Kinderwägen rissen, um schneller laufen zu können, ihre Schuhe von den Füßen schleuderten, schrien, weinten. Dann rief einer um Hilfe, einer brüllte, wenige Meter weiter vorn werde geschossen und gestorben, und Lehmann rief: "Hier entlang!" Er lotste zahlreiche Menschen, darunter ganze Familien, zu seiner Haustür und filmte dann, wie sich Dutzende hineindrängten, erschöpft auf den Treppenabsätzen hockten, Freunde und Familien anriefen. "Geht es euch gut? Uns geht es gut! Wo seid ihr?" Lehmann bat den Hausbesitzer, noch andere Wohnung zu öffnen; Stunden hätten die Leute im Haus gewartet und sich nicht mehr auf die Straße getraut, sagt er der Süddeutschen Zeitung am Telefon, sie hätten gerätselt, warum der Terror immer wieder Frankreich trifft, geweint, sich gegenseitig getröstet.

Lehmann, der nach dem Abitur in München nach Nizza ging, um als Makler zu arbeiten und damit das Geld für eine Pilotenausbildung zu verdienen, berichtet, noch am Tag danach sei beim Blick aus dem Fenster der Terror präsent: Militärfahrzeuge rollten die Straße am Meer auf und ab, Hunderte stünden auf beiden Seiten der Polizeiabsperrungen und starrten auf die Szenerie, auf der noch immer umgekippte Kinderwägen, Kleider, Handys lägen.

Es sei ein unwirklicher Anblick, sagt der junge Mann am Freitagnachmittag: Zivilpolizisten, in aller Eile von überallher zusammengetrommelt, stünden in Freizeitkleidung, teils in Shorts und Sandalen, auf der Straße, die MGs im Anschlag, Polizeiboote sicherten das Meer. Am Strand schon wieder die ersten Sonnenhungrigen, dahinter die Ermittler - und der Lkw des Täters, dessen weiße Plane in Sichtweite von seiner Terrasse in der Sonne leuchte. Lehmann selbst war am Freitagabend wieder allein in seiner Wohnung, die für ein paar Stunden Schutzraum war für fremde Menschen.

© SZ vom 16.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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