Neustart der Live-Kultur:Kreative Pioniere

Hochzeitskapelle

Wer Bühnen sucht, der findet sie. Die "Hochzeitskapelle" gastierte jüngst in einem Münchner Hinterhof und machte die Anwohner auf ihren Balkonen zum Logenpublikum.

(Foto: Lisa Reuter)

In Bayern soll die Live-Kultur langsam wieder anfahren. Die Unsicherheit auf Seiten der Veranstalter und Künstler ist groß - ebenso wie der Mut, nach ungewöhnlichen Lösungen zu suchen

Von Michael Zirnstein

Obwohl Corona die Kultur kleinhält, kommen einige wenige Bands doch hoch hinaus. Die Hochzeitskapelle, Münchens mit dem deutschen Filmpreis dotierte Instrumentalvagabunden, machte jüngst das Dach einer Remise zu ihrer Behelfsbühne und brachte die Anwohner auf den Balkonen so in den Genuss ihres "Rumpeljazz". Auch Dreiviertelblut dürfen bald, wohl am 15. Juni, in luftiger, virenfreier Höhe spielen: auf dem Dach-Sportplatz des Bellevue di Monaco. "Wir fühlen uns schon wie die Beatles", sagt deren Sänger Sebastian Horn. Jeder Auftritt kommt gelegen nach acht Wochen zu Hause (mit fünf Kindern), die an den Nerven und Ersparnissen nagen. 45 Konzerte seien abgesagt worden. Umso glücklicher - "nervös, freudig erregt" - war er über die Kunde, wieder vor Publikum singen zu dürfen. Nicht nur in München auf dem Dach, sondern auch in Passau vor dem Dom. Dorthin hat der Bühnenbesitzer und Konzertveranstalter Till Hofmann Dreiviertelblut eingeladen zu einem ersten Festival-Experiment den ganzen Juni über, dem "Flying Circus": openair auf dem Domplatz, bestuhlt für 100 Zuhörer - jeweils kleine Auftritte von Routiniers wie Hannes Ringlstetter, Willy Astor oder Claudia Koreck, aber insgesamt ein großer Sprung hin zur Auferstehung des Kulturbetriebs. Denn Hofmann hatte die Genehmigung der Passauer Behörden und war sich sicher: "Nach Pfingsten geht was."

Und dann kam Markus Söder, und gab ihm recht und doch wieder nicht. Auf seiner Pressekonferenz zu weiteren Lockerungen am Dienstag verkündete der Ministerpräsident, wonach Musiker, Schauspieler, Veranstalter und lokale Behörden seit Wochen verlangt hatten: einen festen Termin zum Wiederstart der Live-Kultur. Zwar nicht direkt nach Pfingsten, aber nach den Ferien am Montag, 15. Juni, dürfen Theater, Musikbühnen und Kinos öffnen, freilich unter den aktuellen Hygiene-Geboten. Unter freiem Himmel sollen zunächst 100 Gäste teilnehmen dürfen, in Innenräumen 50, in einer zweiten Stufe irgendwann 350.

Kulturschaffende nahmen diese Ansage zwar "wohlwollend zur Kenntnis", wie Anna Kleeblatt, die mit dem Verband der Münchner Konzertveranstalter (VdMK) "proaktiv" einen 18-seitigen Leitfaden zu allen Belangen der Erstellung von Hygienekonzepten erarbeitet hatte, den alle Veranstalter ihren jeweiligen Gegebenheiten nach anpassen können. Aber was bedeuten die wenigen Sätze von Söder und Kunstminister Bernd Sibler im Einzelnen? Wieder begann die Branche zu rätseln, und Unsicherheit ist Gift für das planungsbedürftige Veranstaltergeschäft.

Einzelheiten verrät auf Anfrage das Ministerium für Wissenschaft und Kunst. Das hat in Abstimmung mit dem Gesundheitsministerium das Konzept für alle kulturellen Veranstaltungen erstellt, welches - da ist man sich dort noch nicht ganz sicher - entweder sofort gelte oder spätestens nach Herausgabe der fünften Auflage der "Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung": Gäste und Personal müssen 1,5 Meter Abstand halten, Sänger und Blasmusiker zwei Meter. Tickets dürfen nur personalisiert und mit Sitzplatznummer verkauft werden. Alle müssen von Eintritt bis zum Auslass Mund-Nasen-Schutz tragen, Künstler nur dann nicht, wenn es mit der Darbietung nicht vereinbar ist. Ein "wirksames und durchdachtes Hygienekonzept" muss auf Verlangen hin vorgezeigt werden können. Jede Veranstaltung mit mehr als zehn Personen muss zehn Tage zuvor bei der örtlichen Kreisverwaltungsbehörde angezeigt werden. Diese dürfe auch Ausnahmen genehmigen: Freiluft-Veranstaltungen bei ausreichend Platz etwa auch mit mehr als 100 Gästen und bereits vor dem 15. Juni.

Till Hofmann könnte seinen nach Söders Terminansage verschobenen "Flying Circus" also wieder nach vorne ziehen, aber das will er gar nicht. "Vielleicht nutzen wir die Zeit und probieren die mobile Bühne vorher schon woanders aus." Genau dafür ist sie gedacht, um "herumzuziehen", um die "Poesie von Dörfern und Plätzen zu erkunden" und Erfahrung zu sammeln mit dem Bespielen ungewöhnlicher Orte - in München sucht er noch, die Stadt hat ihm für das Amphitheater im Englischen Garten eine Abfuhr erteilt, weil da nur Gratis-Veranstaltungen erlaubt seien.

An den Kosten wird jetzt trotz der Lockerung vieles scheitern. "Für solche Behelfs-Konzerte braucht man mehr Platz, mehr Personal und mehr Zeit", sagt Michael Löffler von der Münchner Konzertagentur Target. So aber rechneten sich die Mini-Veranstaltungen nicht. Und große Konzerte, mit denen man den Verlust ausgleichen könne, seien auf lange Sicht unvorstellbar, selbst ein Großereignis auf dem Königsplatz 2021 sei ihm gerade weggebrochen.

Normal wird im Kulturbetrieb lange gar nichts sein. So braucht es in dieser Übergangszeit einer Pop-up-Kultur kreative Pioniere, die flexibel und schnell Veranstaltungen aufziehen, neue Formate ausprobieren und statt der nun oft nutzlosen Infrastruktur einfach ihre eigene mitbringen. Wie Hofmann. Oder wie Kathrin Feldmann, die schon seit April als Versammlungen deklarierte Klassikkonzerte auf dem Odeonsplatz organisiert (das nächste am 31. Mai). Wie den "Kulturlieferdienst", der inzwischen täglich in München auf gesperrten Straßen für die Rettung der Künstler demonstriert und dabei Musiker spielen lässt. Oder wie eben die Hochzeitskapelle, alles renommierte Musiker wie Evi Keglmaier und die Acher-Brüder, die einfach wieder spielen wollen und auftreten, wo man sie schätzt - "auch im Hinterhof oder auf einem Garagendach".

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