Neuried:Eine Krankheit, die auch Gesunde fordert

Demenzparcours

Selbsterfahrung beim Parcours: Eine Besucherin versucht, mit einem Modellauto eine Strecke nachzufahren. Sie darf ihrer Hand nur im Spiegel blickend folgen, um nachzufühlen, wie es Menschen mit Demenz ergeht.

(Foto: Catherina Hess)

"Gemeinsam gegen das Vergessen": Der erste große Demenztag der Gemeinde stößt auf große Resonanz. Dabei soll es aber nicht bleiben - zeitnah wollen die Initiatoren weitere Ideen und spezielle Angebote umsetzen

Von Annette Jäger, Neuried

Rosemarie soll eine Postkarte zum Geburtstag bekommen. Ihr Name soll draufstehen, das Geburtsdatum auch und ein Blümchen ist zu malen. Klingt nach einer überschaubaren Aufgabe. Wenn man allerdings seine Hände beim Schreiben und Malen nicht sehen kann, stattdessen nur in einen Spiegel blickend der schreibenden Hand folgen kann, wird alles wirr. Es ist ein Koordinationskunststück, auf dem Kopf und spiegelverkehrt das bisschen Text und die Blume auf die Karte zu bekommen.

Die Schreibübung ist eine Aufgabe beim Demenz-Parcours, der am Freitagnachmittag in der Mehrzweckhalle aufgebaut war. Gesunde sollen nachvollziehen können, wie sich ein Mensch mit Demenz oft fühlt: verzweifelt, ungeduldig, und wenn am Tag viele Karten an Rosemarie zu schreiben sind, endet das auch mal in Aggression. Es gab noch mehr frustrierende Selbsterfahrungsübungen: Eine ganze Reihe an Namen und Geburtstagen war zu merken, und wenn es darum ging, ein bestimmtes Datum abzurufen, war da nur Blanko im Hirn. Auch spiegelverkehrt mit einem Spielzeugauto eine Strecke abzufahren, wollte nur mit größter Anstrengung und vielen Fehlversuchen gelingen.

Ein Ehepaar aus Martinsried hat alle drei Übungen beim Demenz-Parcours mitgemacht. "Erschreckend" war für beide die Einsicht, dass es Betroffenen in der Realität immer so geht. Genau für diese Einsicht sind sie am Freitagnachmittag zur ersten großen Demenzveranstaltung "Gemeinsam gegen das Vergessen" in die Aula der Grundschule und Mehrzweckhalle gekommen. Ihre Mutter sei demenzkrank, sagt die Frau. Deshalb wollten sie die Möglichkeit nutzen, sich in die Welt der Mutter einzufühlen.

Sie passten damit genau zur Zielgruppe, die Andreas Kobza, Seniorenbeauftragter der Gemeinde Neuried, mit der Veranstaltung ansprechen wollte: Angehörige von Demenzkranken. Aber auch alle anderen Interessierten waren eingeladen, sich in den vier Fachvorträgen, in Kurzfilmen und an zehn Infoständen der Hilfs- und Beratungsangebote im Landkreis München - von der Alzheimer-Gesellschaft bis zur Fachstelle für pflegende Angehörige - mit der Krankheit auseinanderzusetzen und ein Bündel an Informationen und Adressen von Anlaufstellen mit nach Hause zu nehmen.

Eine Motivation für die Veranstaltung sind die blanken Zahlen: Laut Alzheimer-Gesellschaft leben etwa 1,6 Millionen Menschen mit einer Demenzerkrankung in Deutschland, auf Neuried entfallen dann etwa 160, hat Kobza ausgerechnet. Dazu zähle mindestens jeweils ein Angehöriger, was in Summe eine ganze Menge Bürger ausmache, die betroffen sind, Tendenz steigend. Schon im Vorjahr sollte der Fachtag stattfinden, die Corona-Pandemie verhinderte es. Am Freitag wurde er nachgeholt, eingebettet in die erste Bayerische Demenzwoche, die bis 26. September dauert.

Die Veranstaltung hat Andreas Kobza im Namen der Gemeinde organisiert, die 2019 den Titel "demenzfreundliche Kommune" erhalten hat. Seit 2017 vergibt ihn der Landkreis samt einer finanziellen Förderung an Kommunen, die ein Konzept präsentieren und dann umsetzen, wie sie demenzfreundlicher werden. Dazu gehört unter anderem, ein soziales Umfeld für Menschen mit Demenz und deren Angehörige zu schaffen, ihnen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen und neue, kreative Wege im sozialen Miteinander zu finden. Es geht auch darum, daran zu arbeiten, dass Demenz im Bewusstsein der Gesellschaft verankert wird. Neben Neuried gelten inzwischen 13 Kommunen im Landkreis als demenzfreundlich.

Damit einher ging eine Bestandsanalyse, welche kommunalen Angebote es zu Demenz in Neuried schon gibt. Sie brachte 2020 ein ernüchterndes Ergebnis, so Kobza: "nichts". Daraufhin trommelte er vor gut einem Jahr 16 Vereine und Organisationen, darunter der Sportverein TSV, die Nachbarschaftshilfe und die Beratungsstellen im Landkreis, zu einem Fachtag zusammen, um zu erarbeiten, was in Neuried wünschenswert wäre. Die Auftaktveranstaltung am Freitag ging daraus hervor, aber auch weitere Ideen, die zeitnah umgesetzt werden. So wird in einer Kooperation mit dem TSV ein Bewegungsangebot für Demenz-Erkrankte erarbeitet - Angehörigen können parallel einen anderen Sportkurs belegen - und mit dem Jugendhaus werden Musik- und Tanznachmittage organisiert. Erst mal alle vernetzen und Angebote schaffen, die die Pflegenden aus der Betreuungssituation holen - das sei kurzfristig umsetzbar, sagt Kobza.

Dass Freizeitangebote besonders für die Angehörigen wichtig sind, wurde auch am Freitag betont. Denn wer pflegt, hat von einem bestimmten Punkt an keine Freizeit mehr, vernachlässigt soziale Kontakte und die eigene Gesundheit, machte Denise Buss von der Alzheimer-Gesellschaft deutlich. Sie brauchten Unterstützung auf allen Ebenen. Auf Dauer "wuppe" keiner die Pflege alleine. Sie ermutigte Angehörige, sich frühzeitig Entlastung zu holen, von organisierten Urlauben über Betreuungsgruppen für die Patienten bis hin zu Selbsthilfegruppen. Der Vortrag war, wie auch die anderen voll besetzt, die Infostände gut frequentiert, das Thema traf bei allen Altersgruppen auf offene Ohren. Es war eine Auftaktveranstaltung, die eines gewiss machte: Demenz ist eine Krankheit, die auch die Gesunden fordert.

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