Neuperlach:Richtig machen statt wichtig machen

Basketball oder Thai-Boxen für Jugendliche, Frauentreff, eine Medaillengewinnerin im Rollstuhl: Vier Neuperlacher bewirken etwas in ihrem Viertel. Ihre Geschichten erzählt die Ausstellung "50 Gesichter"

Von Björn Struss und Corbinian Wildmeister, Neuperlach

Als in Neuperlach die ersten Veranstaltungen geplant werden, um das 50-jährige Bestehen des Stadtteils zu feiern, fällt Ingrid Müller etwas auf. "Es fehlten die Menschen", erinnert sich die Künstlerin. So war die Idee geboren, den Neuperlachern eine Ausstellung zu widmen. Mit einem neunköpfigen Team machte sich die Leiterin des Kunsttreffs Quiddezentrum ans Werk. Gemeinsam suchten sie spannende Menschen, schossen zahllose Fotos, stellten Fragen und sammelten Geschichten. Am Ende stehen 50 Collagen, die Menschen aus dem jungen Stadtviertel porträtieren. Fragebögen liefern einige Informationen zur Person, manchmal sind es ganze Lebensgeschichten. Doch spannend ist vor allem, was der Betrachter zu hören bekommt. Denn jede Person erzählt auch eine kleine Geschichte, abgespielt durch eine Art Audioguide. Oft sind es Erinnerungen aus dem Leben, den aufmerksamen Hörer erwarten aber auch ein paar Überraschungen. "Was alle eint, ist der schlechte Ruf, den Neuperlach hat", sagt Ingrid Müller über ihre 50 Protagonisten. Und: "Es sind Menschen, die keinen großen Wind um sich machen." Umso mehr sei sie von ihnen beeindruckt. Sie ist sich sicher: "Neuperlach hat viel Potenzial. Die Talente finden sich nicht nur in Schwabing." Einen Vorgeschmack auf die Ausstellung geben die beispielhaft ausgewählten vier Geschichten von Menschen, die ihren Stadtteil auf ganz eigene Art prägen.

Ein Versprechen unter Sportlern

Als sein Trainer für Thai-Boxen im Sterben liegt, gibt ihm Ramazan Varisli ein Versprechen. Er werde die Leitung der Gruppe in Neuperlach übernehmen und so Jugendliche weiter für den Sport begeistern. Damals ist Varisli ein Teenager, der selbst erst seit zwei Jahren Thai-Boxer ist. Doch das Versprechen hält bis heute. Als ehrenamtlicher Mitarbeiter des kirchlichen Jugendzentrums bringt der 42-Jährige Kindern und Jugendlichen das Thai-Boxen bei. Sein Motto: "Richtig machen statt wichtig machen." Der Ehrenkodex besagt, die Techniken nur zur Selbstverteidigung zu nutzen. Es geht Varisli nicht nur um Sport, sondern auch darum, "sich in der Schule richtig zu verhalten und keinen Ärger zu machen. Das ist für die Integration sehr wichtig." Für sein Engagement erhielt er 2010 das Bayerische Ehrenzeichen.

Hymne auf den Brennpunkt

"Das hier ist ein Brennpunkt", so beschreibt der Rapper Großes K den Stadtteil Neuperlach in seinem Lied "NPL Anthem". Ungeschönt berichtet Kandala Nzanzala, so der bürgerliche Name des Musikers, darin, wie er in seiner Jugend Drogenkriminalität und Gewalt im Münchner Osten erlebt hat. In den vergangenen zehn Jahren habe sich die Lage aber schon stark verbessert, findet der 43-Jährige. Auch vom Zusammenhalt zwischen den Bewohnern des Stadtteils und davon, wie wichtig es ist, nicht die Schule abzubrechen, erzählt er in seinem Text. Letzteres ist dem gebürtigen Neuperlacher ein großes Anliegen, denn nebenberuflich engagiert er sich in der Jugendarbeit und in sozialen Projekten. So gibt er beispielsweise jeden Montag Basketballunterricht an der Mittelschule am Gerhart-Hauptmann-Ring. Für sein Viertel wünscht sich Nzanzala mehr öffentliche Plätze, wie Kaffees, Kinos oder Sportplätze, an denen die Jugendlichen ihre Zeit sinnvoll verbringen können.

Rückkehr in christlicher Mission

An die Entstehung von Neuperlach kann sie sich noch gut erinnern. Christiane Gruzlewski besucht damals die Grundschule in Altperlach, als ihr Spielrevier in der dörflichen Idylle zu einem riesigen Baugebiet wird. "Ich war platt. Die Trabantenstadt kam mir wie ein Dinosaurier vor" erinnert sie sich an den Tag, als den Perlachern ein Modell der neuen Wohnblöcke gezeigt wird. Vor zwei Jahren ist die Sozialpsychologin nun an diesen Ort zurückgekehrt. Als die evangelische Gemeinde in Neuperlach händeringend einen neuen Pfarrer sucht, fasst sich ihr Mann ein Herz und übernimmt den vakanten Platz. Christiane Gruzlewski ist seitdem engagiert wie nie, leitet einen Frauentreff und hilft bei einer Ausgabestelle der Tafel. "Neuperlach ist sauspannend und ganz anders als aus der Außenperspektive. Hier leben sehr ehrliche Menschen", sagt die vierfache Mutter.

Gold für Neuperlach

"Ey, weißt du, schon ziemlich cool, dass du erste Platz bei Olympia mit Behinderte gewonnen hast und hier wohnst, dann weiß ich, dass ich auch was schaffen kann!" Sätze wie diesen hört Birgit Kober gelegentlich von Jugendlichen, wenn sie in ihrem Stadtteil unterwegs ist. Seit 2008 wohnt die Leistungssportlerin, die bei den Paralympischen Spielen zwei Goldmedaillen im Kugelstoßen und eine Goldmedaille im Speerwerfen gewonnen hat, in Neuperlach. An ihrem Viertel mag die 45-jährige Rollstuhlfahrerin die Vielfalt an Menschen, die dort wohnt, dass diese bodenständiger sind als in vielen anderen Stadtteilen und dass sie dort als der Mensch akzeptiert wird, der sie ist.

Die Ausstellung "Gesichter und Geschichten: 50 Neuperlacher" ist bis zum Sonntag, 4. Juni, im Kunsttreff Quiddezentrum, Quiddestraße 45, zu sehen und zu hören. Sie ist donnerstags bis sonntags von 15 bis 19 Uhr geöffnet. An den Wochenenden wird das Projekt durch Konzerte, Kabarett und eine Lesung begleitet. Das Programm ist online unter www.kunsttreff-quiddezentrum.de zu finden.

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