Neuperlach:Die Grenzen des Wachstums

Oberbürgermeister Dieter Reiter lädt erstmals direkt im Viertel zur Bürgersprechstunde und diskutiert mit 300 Perlachern und Ramersdorfern über Münchens Probleme - vor allem mit dem Verkehr

Von Hubert Grundner, Neuperlach

Neuperlach: OB Dieter Reiter hört sich bei seiner Stippvisite im Neuperlacher Kinder- und Jugendtreff an, was sich die junge Generation für ihr Viertel wünscht.

OB Dieter Reiter hört sich bei seiner Stippvisite im Neuperlacher Kinder- und Jugendtreff an, was sich die junge Generation für ihr Viertel wünscht.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Hemmungslos polemisiert, gestört und beleidigt - wurde nicht. Was in Zeiten des Wutbürgertums ja nicht mehr selbstverständlich ist und schon deshalb als Meldung taugt: Etwa 300 Perlacher und Ramersdorfer haben am Donnerstagabend mit Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) über ihren Stadtbezirk diskutiert. Dabei war diese Bürgersprechstunde, zu der der OB in die Turnhalle des Heinrich-Heine-Gymnasiums geladen hatte, von gegenseitigem Respekt und Sachlichkeit geprägt. Und so sehr dies von allen Beteiligten gelobt wurde, wunderte man sich doch, dass praktisch keines der Aufregerthemen der vergangenen Monate angeschnitten wurde. Die Bebauung des Hanns-Seidel-Platzes oder der geplante U-Bahn-Betriebshof in Neuperlach-Süd hätten sicherlich Diskussionsstoff liefern können.

Stattdessen drehte sich fast der ganze Abend um den Verkehr, sei es in fließender, stehender oder, pardon, stinkender Form. Beispielhaft dafür war etwa die Wortmeldung eines Anwohners des Karl-Preis-Platzes. Er beklagte sowohl die fehlende Radspur auf der Rosenheimer Straße ("Mit Tempo-30-Zone geht da gar nichts") als auch den Mangel an Parkplätzen im Quartier. Nicht zuletzt verwies er aber auf die Schadstoffbelastung durch Autoabgase.

Worauf Reiter erwiderte, dass praktisch alle großen deutschen Städte mit extremen Überschreitungen der Grenzwerte zu kämpfen hätten. Ob die Stadt selbst etwas dagegen unternehmen dürfe, entscheide erst noch das Bundesverwaltungsgericht. Augenblicklich fordere der Städtetag jedenfalls die Einführung der blauen Plakette für schadstoffärmere Dieselautos, um zeitweise nötige Fahrverbote zu handhaben. "Das steht bevor, wenn nicht der Regierung von Oberbayern oder den Autoherstellern etwas Besseres einfällt", sagte Reiter. Eine technische Lösung des Abgasproblems sei aber bislang nicht in Sicht. Die Plakette solle deshalb möglichst gezielt die Verursacher des Schlamassels treffen. Man brauche sie, falls man nicht die Städte unterschiedslos für alle motorisierten Verkehrsteilnehmer sperren wolle.

Fast im gleichen Atemzug betonte der OB, dass München umso dringlicher einen gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) brauche. Wobei er bevorzugt das Bus- und das Trambahnnetz stärken möchte, da dies schneller zu realisieren sei als der Bau einer neuen U-Bahnstrecke.

Besonders aufhorchen ließ Reiter aber, als er im weiteren Verlauf des Abends zum gleichen Thema anmerkte: "Es muss eine Verkehrswende geben", und zwar mit Hilfe des ÖPNV, das halte er für bedeutend wichtiger, als weitere Autotunnel zu graben. Und schließlich machte der Rathauschef eine Prognose, die man auch weit jenseits der Grenzen des 16. Stadtbezirks zur Kenntnis nehmen wird: "2030, glaube ich, dass wir die Stadt nicht mehr mit Verbrennungsmotoren befahren werden." Eine Meinung, so Reiter, die auch in den anderen Metropolen vertreten werde.

Ein ganz spezielles Münchner Problem ist hingegen das extreme Wachstum der Stadt. Fast alle Sorgen und Nöte, die in der Bürgersprechstunde vorgetragen worden sind, stehen damit in Zusammenhang: der Platzmangel an der Gänselieselschule ebenso wie die veraltete technische Ausstattung des Heinrich-Heine-Gymnasiums, fehlende Ganztagsbetreuungsplätze, Schleichverkehr und Dauerparker in Wohngebieten oder die vergebliche Suche nach einem Baugrundstück.

Jährlich steige die Bevölkerungszahl um rund 20 000 Menschen, erklärte Reiter. Darauf versuche die Stadt zu reagieren, wie etwa mit der milliardenschweren Schulbauoffensive, die er nach seiner Wahl initiiert habe. Zugleich räumte er ein, dass bei der Ausweisung von Baugebieten die notwendige Infrastruktur wie Schulen künftig besser mitgeplant werden müsse.

Allerdings bescheinigte er vielen Münchnern auch eine gewisse Schizophrenie: Prinzipiell befürworteten sie den Bau von Wohnungen. Doch sobald es konkret werde, erlebe er wütenden Widerstand, so Reiter. "Wir wollen keine Mauer um München ziehen und auch keinen Wassergraben" - und deshalb müssten Wohnungen entstehen. Er wolle aber kein unbegrenztes Höhenwachstum, und auch den Verlust von Parks und Grünanlagen müsse niemand befürchten. "Wir werden nicht jeden Hinterhof nachverdichten", versprach der OB. Überhaupt sind für ihn die Grenzen dieser Entwicklung bereits erkennbar. Umso wichtiger werde für die Zukunft Münchens die Kooperation mit den Umlandgemeinden, denn: "Das Wachstum der Stadt wird endlich sein."

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