Süddeutsche Zeitung

Neuperlach:Allen Grund zur Freude

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Vor 50 Jahren wurde die Lätare-Kirche eingeweiht. Gefeiert wird nun ein "Jubiläum auf Raten" in einer Gemeinde, die vor großen Herausforderungen steht

Von Hubert Grundner, Neuperlach

"Bis 1968 wohnten in Neuperlach nur Feldmäuse und Hamster. Jetzt kamen die ersten Möbelwagen." So erinnerte sich im Ruhestand Rainer Holl an die Gründerzeit in Neuperlach. Und er fuhr fort: "Als ich im Juli 1969, gleichzeitig mit der Grundsteinlegung der Lätare-Kirche, als Pfarrer anfing, wohnten bereits 6000 Menschen in der neuen Trabantenstadt." Doch seitdem ist die Zeit nicht stillgestanden. Und so feiert das evangelisch-lutherische Gotteshaus heuer sein 50-jähriges Bestehen. Es wird nicht zuletzt wegen der Corona-Pandemie eine Art "Jubiläum auf Raten", das sich über das ganze Jahr erstrecken soll. Den Auftakt macht am Sonntag, 14. März, ein Festgottesdienst an der Quiddestraße 15 mit dem Regionalbischof des Kirchenkreises München und Oberbayern, Christian Kopp. Der aus kirchlicher Sicht "offizielle" runde Geburtstag wird hingegen erst im Sommer begangen, denn Lätare ist am 18. Juli 1971 eingeweiht worden. Ihr Name leitet sich ab von der Bezeichnung des mittleren Passionssonntags Lätare, zu Deutsch: "Freue dich!"

Schon im Jahr 1960 hat der Münchner Stadtrat die Errichtung von "Entlastungsstädten" beschlossen, um der Wohnungsnot in der rapide wachsenden Großstadt zu begegnen. 1967 begannen die Bauarbeiten für die Abschnitte Nord, Nordost und Ost des neuen Stadtteils Neuperlach. Am 6. Juli 1969 fand schließlich die Grundsteinlegung der Lätare-Kirche mit Gemeindezentrum statt, durchgeführt durch Dekan Georg Lanzenstiel. Am 1. Februar 1970 wurde die Lätare-Gemeinde, die bis dahin noch von St. Paulus aus verwaltet wurde, selbständig und eine provisorische Gemeindevertretung wurde gebildet, heißt es in einer älteren Chronik. Bereits am 8. November jenes Jahres wurde dann ein Kirchenvorstand gewählt - mit den damals amtierenden Pfarrern Rainer Holl und Werner Küfner.

Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass Neuperlach in jenen Tagen eine einzige große Baustelle war - und mittendrin die Lätare-Kirche. "Wie man da Gemeinde aufbaut?", fragte Pfarrer Rainer Holl und antwortete gleich selbst mit erstaunlicher Offenheit: "Das wusste eigentlich niemand." Das Dekanat hatte laut Holl zwei Wohnungen am Adolf-Baeyer-Damm angemietet: eine für den Pfarrer - mit Pfarramt - und eine für den Diakon, die gleichzeitig Gemeindetreffpunkt war. "Dort kamen wir zum Gottesdienst zusammen, dort trafen sich erste Gemeindekreise, dort begannen wir eine improvisierte Kinderbetreuung." Und so nahm noch vor der Einweihung der Lätare-Kirche die erste Kindertagesstätte der neuen Kirchengemeinde im Januar 1971 den Betrieb auf.

Selbst ein halbes Jahrhundert später lassen diese Schilderungen noch immer nachempfinden, welch große Aufbruchstimmung und Experimentierfreude in der jungen Gemeinde geherrscht haben müssen. Ihre Mitglieder konnten aus einem schier überbordenden Programmangebot wählen. Dazu zählten etwa Besuchsdienst, Altenklub, Ostermontag-Spaziergang, Zeltlager, Jugendfreizeiten, Familienerholung, Meditationswochenende für Erwachsene, Seniorenfreizeiten, Theologiekreis, Stoffmalkreis, Vorschulkindergruppe, Kinder- und Jugendgruppen, Gruppe alleinerziehender Mütter, Gemeindefasching, Singkreis, ökumenische Gottesdienste, ökumenische Abende, Treffpunkt der "Älteren Damen und Herren", Bibelkreis, Kinderfreizeiten, Ikebana-Gruppe, Mutter-Kleinkind-Gruppe, Theatergruppe für Jugendliche, Kindergottesdienst-Team, Kantorei und Posaunenchor. Wer diese Aufzählung - staunend - liest, bekommt eine Ahnung davon, wie sehr die evangelische Kirche in den Siebzigerjahren für viele Menschen offenbar Anlaufpunkt und Heimat war. Hinzu kommen die vielen sozialen Einrichtungen, die in der Lätare-Gemeinde ihren Anfang genommen haben und zum Teil heute noch bestehen.

Mit diesem Angebot der Gründerjahre kann der heutige Pfarrer von Lätare, Klaus Gruzlewski, freilich nur schwer mithalten. Eher im Gegenteil, "unsere Gemeinde wird dramatisch kleiner", gesteht er unumwunden. Damit verstärkte sich offenbar eine Abwärtsspirale: In der Folge sank die Zahl der haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, damit einhergehend mussten Angebote an die Gläubigen eingedampft werden, was wiederum zu schwächerer Nachfrage führte. Dafür macht der 61-jährige Seelsorger, der die Stelle in der Lätare-Kirche im Oktober 2014 antrat, weniger Kirchenaustritte verantwortlich als vielmehr demografische Entwicklungen im Stadtbezirk. Auf der einen Seite seien einstige Gemeindemitglieder weggezogen, während auf der anderen Seite zwar viele Zuzügler nach Neuperlach kamen. Die aber seien offenbar nicht mehr so bereit, sich in der Kirchengemeinde zu engagieren, falls es denn überhaupt Christen seien. Gruzlewski mutmaßt, dass in einer teueren Stadt wie München oft auch finanzielle Gründe, sprich Kirchensteuer, den Ausschlage geben könnten, der Kirche den Rücken zu kehren.

Sei es, wie es sei: Die ganze evangelisch-lutherische Kirche und mit ihr die Lätare-Gemeinde stehen vor der Aufgabe, sich zu konsolidieren. Gebäudeflächen und Personalzahl müssen in absehbarer Zeit so zueinander passen, dass sich ihr Unterhalt finanzieren lässt. Beispielsweise würden, wie Gruzlewski erklärt, zur Entlastung des Haushalts vermehrt kircheneigene Immobilien vermietet. Und der Blick auf die Zahlen lässt an der Notwendigkeit solcher Schritte auch kaum Zweifel zu: Gehörten zu ihrer Hochzeit der Lätare-Gemeinde einmal rund 10 000 Mitglieder an, sind es aktuell nicht ganz 4000. Als wäre das noch nicht genug, sieht sich der Pfarrer mit einem weiteren Problem konfrontiert: "Die Gemeinde ist total überaltert, wir haben hier nur ganz wenige junge Familien." Tatsächlich ist knapp die Hälfte der Mitglieder älter als 60 Jahre.

Trotzdem ist Gruzlewski alles andere als ein Pessimist, der nur noch Trübsal bläst. Zwar konzentriere sich die Arbeit momentan sehr auf Senioren, "aber das wird sich irgendwann wieder drehen", ist er überzeugt. Die Lätarekirche werde auch für jüngere Gläubige wieder attraktiver. Und überhaupt: "Um die Gemeinde als solche habe ich keine Angst - die Gemeinde wird es immer geben." Wenn das kein Grund zur Freude ist - und zum Feiern.

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Quelle:
SZ vom 13.03.2021
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