Neuhausen:"Wie viel heiler meine Seele wird"

Lesezeit: 3 Min.

Im Trauma-Hilfe-Zentrum finden Menschen, die extrem Belastendes mit sich herumschleppen, Unterstützung. 650 Beratungen im Jahr hat das Team zuletzt abgehalten - und ist bei seiner Arbeit auch auf Spenden angewiesen

Von Ilona Gerdom, Neuhausen

Folgen bewältigen: Im Trauma-Hilfe-Zentrum in Neuhausen beraten Therapeuten Betroffene und bieten Stabilisierungsgruppen an. (Foto: Robert Haas)

"Mir blieb der Atem weg, die Panik hatte mich fest im Griff. Es dauerte Stunden, bis ich wieder völlig im Hier und Jetzt ankam, bis ich überhaupt begreifen konnte, dass das Erleben mit einer früheren Zeit zu tun hatte. Ich war währenddessen irgendwo in mir verloren gegangen, verwirrt, verängstigt, ausgeliefert - ein kleines Mädchen." So beschreibt Miriam Rieder ihren Zusammenbruch. Sie fand sich nicht mehr zurecht, weil ihr als Kind Dinge angetan worden sind, die sie noch heute verfolgen. Ihr wurde klar, dass sie Hilfe brauchte, um das Erlebte zu bewältigen. Eine ihrer Anlaufstellen war und ist das "Trauma-Hilfe-Zentrum München" (THZM) an der Horemansstraße. Dort lernen Menschen, die psychisch traumatisierende Erlebnisse hatten, die Folgen zu bewältigen.

In Wirklichkeit heißt Miriam Rieder anders. Eigentlich hat sie sogar mehrere Namen, für jeden ihrer Anteile - oder wie sie heute mit Stolz sagt: für "jede ihrer Persönlichkeiten" - einen. Ein Treffen möchte sie nicht, weil es sie emotional aufwühle, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Sie beantwortet Fragen lieber schriftlich. Anfangs sei es schwer gewesen für sie, sich einzugestehen, dass sie Hilfe brauchte: "Ich schämte mich, wollte mich doch nicht so wichtig nehmen, ein Trauma, das hatten andere." "Ein Trauma haben", das heißt, dass man Zeuge eines extrem belastenden Ereignisses war oder es selbst erlebt hat. Solche Erfahrungen berauben die Menschen ihrer Sicherheit und erschüttern sowohl ihr Welt- als auch Selbstverständnis - verletzen ihre Seele. Erfahrungen, die "man-made" sind, können Auslöser sein. Sie sind von anderen Menschen, häufig Bezugspersonen, verursacht worden. Andererseits kann ein Trauma entstehen, wenn sich eine Katastrophe oder ein Unfall ereignet. "Sozusagen zur falschen Zeit, am falschen Ort", erklärt Stephanie Kramer, Sozialpädagogin und Geschäftsführerin des Vereins "Trauma Hilfe Zentrum".

Stephanie Kramer. (Foto: Robert Haas)

Kramer ist eine sympathische Frau. Sie lacht viel, hat aber gleichzeitig eine beruhigende Art. Nicht nur sie, auch die Räume geben durch warme Farben ein Gefühl von Sicherheit. Es ist eine Atmosphäre, in der Betroffene ankommen und Hilfe finden. Zehn Traumatherapeuten und neun Gruppenleiter gehören zum Team, beraten und stabilisieren, bieten allerdings keine Traumatherapie an. Zunächst gehe es darum, herauszufinden, wo eine Person stehe und was ihr helfen kann, erklärt Kramer: "Man schafft einen Überblick und stellt die Weichen." Für keines der Angebote muss eine ärztliche Diagnose vorhanden sein, weshalb die Krankenkassen die Kosten nicht übernehmen. Im THZM reicht es, wenn jemand vermutet, ein Trauma zu haben. Das äußert sich in belastenden Gedanken und Erinnerungen, die sich aufdrängen, Überanstrengung oder Vermeidungsverhalten. Auch physische Folgen sind möglich. Wie bei Rieder: "Mir war nicht klar, warum es mir so miserabel ging, auch körperlich. Da waren nicht nur das Herz, sondern jahrzehntelange, schwere Migräneattacken, eine massive Autoimmunerkrankung."

Rieder macht Fortschritte - im Traumazentrum und in ihrer zusätzlichen Traumatherapie. "Längst ist das THZM für mich ein Anker geworden", sagt sie. "Seit einigen Jahren bin ich dort in unterschiedlichsten Stabilisierungsgruppen, vor allem in der Musiktherapie, die mir so viel gibt. Auch hier darf ich erleben, wie viel heiler meine Seele bereits ist und wird." Die Gruppen gehören zum Kernangebot. Je acht Personen besuchen acht Sitzungen zusammen. Die Übungen schaffen für sie einen "sicheren Ort". "Sprache kann zwar Welten öffnen, ist aber gleichzeitig sehr begrenzt", erklärt Kramer. Oft lägen Traumata außerhalb der Sprache. Zum Beispiel, weil man sich zum Zeitpunkt des Erlebnisses noch nicht verbal ausdrücken konnte. Laut Kramer sind sie im "Körpergedächtnis gespeichert". Der eigene Körper wird zum "Ort des Schreckens", und es ist wichtig, ein neues Körperempfinden aufzubauen. Das kann durch kunst- oder musiktherapeutische sowie körperorientierte Zugänge geschehen.

Das Trauma-Hilfe-Zentrum wurde Rieder von ihrer ersten Therapeutin empfohlen. Die Vernetzung von Institutionen und Traumatherapeuten ist eine der Grundideen der Einrichtung, um Betroffenen Hilfe und Ansprechpartner zu bieten. "Trauma kommt überall vor", sagt die Geschäftsführerin. Darum sei der Kontakt mit angeschlossenen "Hilfesystemen" wie der Flüchtlingsarbeit, Altenpflege oder Jugendhilfe entscheidend. Zudem bietet der Verein Fort- und Weiterbildungen an, finanziert über Spenden. Zwar ist der Verein Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband und wird unter anderem vom Referat für Gesundheit und Umwelt gefördert, doch nur in der direkten Arbeit mit Betroffenen. Ohne zusätzliche Spenden wäre vieles nicht möglich.

Im Büro steht ein Korb mit bunten Massagebällen. Manchen Betroffenen hilft es, im Gespräch etwas in der Hand zu halten. (Foto: Robert Haas)

Immer mehr Menschen klopfen an die Türe, schicken E-Mails oder rufen an, weil sie Hilfe brauchen. An die 650 Beratungen haben die Therapeuten und Therapeutinnen 2018 durchgeführt. Das stellte Kramer und ihr Team vor ein Problem: "Hier ist ein Bedarf, hier sind Betroffene, wir haben Personal - aber wo sollen wir es denn machen?" Weil die Räume zu klein sind, zieht das Zentrum demnächst um, auf die andere Hofseite. Fast doppelt so viele Zimmer hat es dann zur Verfügung. Doch dafür ist ein kompletter Umbau nötig: Rigipswände müssen herausgerissen, neuer Boden verlegt werden. "Da müssen wir an unsere Rücklagen gehen", sagt Kramer. Für die Entscheidung zum Umzug hat Stephanie Kramer Mut gebraucht, so wie Miriam Rieder ihren zusammennehmen musste, um ihrem Trauma entgegenzutreten. Das bereut sie nicht: "Heute weiß ich, dass ich ein großes Glück habe - ohne THZM hätte ich vielleicht nicht überlebt. Sicherlich allerdings könnte ich nicht so am Leben teilhaben - und ab und zu spüre ich, wie es sein wird, wenn ich ganz eins bin."

Weitere Informationen unter www.thzm.de.

© SZ vom 11.01.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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