Eine Hauswurfsendung hat in diesen Tagen flächendeckend die Briefkästen an der Hilblestraße in Neuhausen erreicht. Vorderseite: Das Porträt eines Mannes, er sieht aus wie ein typischer Alt-Münchner, ein bisserl feist, ein Schnauzer und das Haar schon auf der Flucht. Eine gestrichelte blaue Linie, die an eine Fahrbahnmarkierung erinnert, teilt sein etwas leeres Gschau in zwei Hälften. Rückseite: Es handelt sich um eine Einladung. Für diesen Samstag, 25. September. Ein temporäres Denkmal will da jemand auf der Hilblestraße errichten, von 12 Uhr an. Es soll eine Parade geben mit Musik und Performance. "Nehmen Sie einen Platz in der ersten Reihe an Ihrem Fenster oder auf Ihrem Balkon ein ..." heißt es da ermunternd. Dann folgen vier Namen: Samuel Fischer-Glaser, Yulia Lokshina, Constanza Meléndez, Angela Stiegler. Und eine Telefonnummer mit Münchner Vorwahl. Ach, und einen QR-Code gibt es auch.
"Toll, dieser Einwurf, der reißt einen vom Hocker!" Nein, sie sitzt, wenn auch sehr dynamisch, diese Dame, Jahrgang 1942, so viel verrät sie, ihren Namen besser nicht. Denn sie wohnt in jener Hilblestraße, seit 31 Jahren, und die Leute dort, behauptet sie, seien "unheimlich spießig und langweilig". Sie selbst, da braucht man ihr nur fünf Minuten zuzuhören, ist so ziemlich das Gegenteil davon. Man trifft die ältere Dame im Projektraum "Fructa" an, direkt an der lauten Leonrodstraße, die parallel zur ruhigen Hilblestraße verläuft. Sie sitzt dort, zwischen mit goldener Folie tapezierten Wänden, an einem langen Biertisch mit vier jungen Leuten. Es sind jene Unterzeichner der Hauswurfsendung, Samuel Fischer-Glaser, Yulia Lokshina, Constanza Meléndez und Angela Stiegler. Allesamt Kunstschaffende, zwei von ihnen wohnen selbst in der Hilblestraße. Gerade ist ein Workshop zu Ende gegangen, die Tür steht einladend offen. Auf dem Tisch sieht es nach getaner Arbeit aus, Knabberei, Becher, aber vor allem Malwerkzeug und auf weißen Blättern Zeichnungen; das Schnauzergesicht von der Hauswurfsendung, in etlichen Interpretationen.
Eine vergilbte Fotografie hat den Zeichnern als Vorlage gedient. Sie zeigt Friedrich Hilble (1881-1937), der ein so ehrbarer Mensch gewesen sein muss, dass die Stadt 1956 jene 500 Meter lange Straße im sogenannten Kasernenviertel nach ihm benannt hat. Spätestens aber seit 2012 lag es auf der Hand, dass eine Ehrung durch einen Straßennamen für diesen Menschen nicht mehr aufrechtzuerhalten war: Als berufsmäßiger Stadtrat und Chef der Münchner Wohlfahrt habe er sich, so Samuel Fischer-Glaser, mit viel Eigeninitiative dafür eingesetzt, dass Arbeitslose ins KZ Dachau geschickt wurden. Jüdischen Münchnern wurde auf seine Anordnung hin die Sozialhilfe verweigert. Für ihn waren diese Menschen "Asoziale", "Schmarotzer", "Arbeitsscheue". Was der örtliche Bezirksausschuss und auch die digitale Kunstinitiative "Memory Gaps" seit Jahren gefordert haben, die Umbenennung der Hilblestraße, soll nun Wirklichkeit werden. Der Ältestenrat des Stadtrats, für derlei Verwaltungsakte letzte Instanz, hat dies im Januar 2021 endlich so beschlossen. Nach Sichtung aller historischen Quellen, nach Gutachten und Empfehlungen der Expertenschaft. Im Oktober will der Stadtrat das weitere Vorgehen festlegen.
Die Künstlergruppe im Fructa - die vier kennen sich alle vom Studium - startete mit ihrem Projekt "Schmarotzerbrücke" schon vor rund einem Jahr und hat dafür auch eine Förderung vom Kulturreferat bekommen. Der Projektname ist klar eine Anspielung auf die menschenverachtende NS-Rhetorik Hilbles. Die andere Worthälfte aber beschreibt ihre zentrale Motivation: Die Straßenbenennung soll nicht einfach so, als Verwaltungsakt und mit allen bürokratischen Spätfolgen, über die Leute in der Hilblestraße kommen. Die vier wollen die Nachbarschaft durch ihr Projekt symbolisch am Bau einer "Brücke" beteiligen. Sie zu den Hintergründen informieren, vor allem aber auch ihre eigenen Standpunkte und Geschichten kennenlernen. Wie aber aktiviert man Menschen, die sich überwiegend außerhalb politischer und kultureller Zirkel bewegen? Auch wenn das Schwere Reiter und das Kreativquartier um die Ecke liegen.
Start war im Oktober 2020, Samuel Fischer-Glaser, Yulia Lokshina, Constanza Meléndez und Angela Stiegler liefen mit Packen von Flyern die Wohnblocks an der Hilblestraße und die Supermärkte und Geschäfte der Umgebung ab. Damals mit einer Hauswurfsendung ganz in Azurblau und der Aufschrift "Sprechstunde". Dann die vertrauenerweckende 089 vor der Durchwahl 69 30 46 34. Den Festnetzanschluss hätten sie sich extra einrichten lassen, sagt Samuel Fischer-Glaser. Um für ihr Projekt zum Umgang mit belasteten Straßennamen Eindrücke aus Vergangenheit und Gegenwart zu sammeln, hatten sie sich eigentlich direkte Kontakte mit den Anwohnern vorgestellt. Doch dann kam der harte Winterlockdown. "Also haben wir Telefongespräche geführt und uns zu kleinen Spaziergängen mit den Leuten getroffen", erzählt Yulia Lokshina.
Im Supermarkt hat Helmut Michael Gaber den Flyer mitgenommen, und die Nummer gewählt. Als Treffen dann wieder möglich waren, hat der Mann, der sich auf seiner Visitenkarte unter anderem als Komparse, Kleindarsteller und Produzent von Kurzfilmen vorstellt, die Workshops im Fructa besucht, wo auch die Idee zur Parade an diesem Samstag geboren wurde. Gaber wird singen. Die Menschen in den mehrgeschossigen Blocks sollen ihre Straße neu kennenlernen, wenn es da plötzlich den "Platz des Autopiloten" geben wird, die "Meine-Oma-war-auch-im-Bund-deutscher-Mädel-Laterne" oder das "Karree der Verbeamtung". Maximal 20 Leute pro Station dürfen vor Ort zuhören, alle anderen, so hofft die Gruppe, können von ihren Fenstern aus zuschauen. Für eine spätere Dokumentation wollen die Künstler alles mit Helmkameras filmen.
Im Fructa liegen an diesem Spätnachmittag noch andere Porträtzeichnungen. Sie zeigen nicht Herrn Hilble mit dem Vatermörderkragen und Hitlerbärtchen, sondern eine junge Frau. Es ist Maria Luiko, die jüdische Malerin und Grafikerin, deren Namen die Straße künftig tragen wird. Sie lebte in Neuhausen, wurde 1933 mit einem Ausstellungsverbot belegt, später deportiert und 1941 im von der deutschen Wehrmacht besetzten Kaunas ermordet. Yulia Lokshina erzählt vom Anruf einer Nachbarin, die sich über die Umbenennung echauffiert habe, ein Werk "unverschämter Besserwisser" sei das. "Solche Äußerungen kamen oft", sagt Samuel Fischer-Glaser. Die Gruppe hat damit aber offensichtlich gerechnet und die Anwürfe mit Langmut zur Kenntnis genommen. Anders ihre agile Workshopteilnehmerin, die ältere Dame, die sich sehr mit dem Schicksal Maria Luikos beschäftigt hat. Sie hätte der Anruferin gewiss die Meinung gegeigt: "Wieder mal typisch, völlig apolitisch, kümmert sich um gar nichts, hat aber eine ganz klare Meinung, O Mensch!"