Süddeutsche Zeitung

Buch über Neuhausen:Von Halbstarken und ihren Hasen

Bisserl Rempeln, Leute provozieren und den Mädchen nachpfeifen: Geschichten von der "Rio-Blasn" und anderen Wirtschaftswunder-Kerlen in Neuhausen.

Glosse von Sonja Niesmann

Blenden wir zurück in die 50er-Jahre, als Lederjacken und Petticoats, Boogie Woogie und Rock 'n' Roll die äußeren Kennzeichen einer rebellischen Jugend waren, die die spießige Welt der Erwachsenen im Wirtschaftswunderland, deren bürgerliche Moral ablehnte. Am Rotkreuzplatz, vor der Eisdiele Venezia, trafen sich regelmäßig gut 20 Jugendliche, rempelten ein bisschen herum, provozierten großspurig Passanten, pfiffen den "Hasen" nach und suchten zu späterer Stunde bevorzugt das Tanzlokal "Kolibri" an der Donnersbergerstraße heim.

Die "Rio-Blasn" - Rio hieß der Rotkreuzplatz im Jugend-Jargon - bestand ausschließlich aus jungen Kerlen, Frauen waren nur beim Tanzen geduldet. Halbstarke wurden sie von vielen Erwachsenen geschimpft - mit kriminell darf das aber nicht verwechselt werden, tagsüber gingen die jungen Leute brav zur Arbeit, und im Alter von 25 wurde mancher von ihnen selbst schön bürgerlich. An der Jutastraße gab es eine zweite Gang, die Parkplatz-Blasn - Jungmänner in Lederjacken, die auf ihren frisierten Mopeds Stund' um Stund' durchs Viertel ritten, gelegentlich auch einmal mitten hinein in eine Kneipe jagten und eine Runde um den Tresen drehten.

All das wird geschildert und wäre nachzulesen im Buch "Vom Rio zum Kolibri - Halbstark in Neuhausen" der Neuhauser Geschichtswerkstatt, einem kleinen Sittengemälde einer Jugendkultur im Viertel. Allerdings ist das 2001 erstmals, 2011 in zweiter Auflage zum Preis von 19 Euro erschienene Werk vergriffen. Allenfalls bei Ebay oder dem Zentralverzeichnis antiquarischer Bücher ist gelegentlich ein Exemplar zu erwischen, zu erstaunlichen Preisen zwischen 40 und 85 Euro.

Am Montag, 17. Mai, 18 bis 19 Uhr, kann man jedoch noch einmal eintauchen in die Welt der Neuhauser Halbstarken, in einem Online-Vortrag des Geschichtswerkstatt-Vorsitzenden Franz Schröther bei der VHS (Kursnummer M125740, Anmeldung www.mvhs.de oder Telefon 48 006-68 30). Vermutlich wird Schröther da auch erzählen, wie die Rio-Blasn einst einen Faschingsball im Löwenbräukeller am Stiglmaierplatz besuchte, einen Faschingsball der Polizei ausgerechnet. Einer der Burschen stibitzte ein Stück Wurst vom Teller eines Ordnungshüters. Der Streit, der entbrannte, gipfelte in einer Schlägerei draußen vor der Tür: die Judo-Gruppe der Polizei gegen die Halbstarken. Wie das ausging? Wird hier nicht verraten.

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SZ vom 12.05.2021/infu
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