Süddeutsche Zeitung

Neuhausen:Baustelle als Bestellware

Von der Dachlatte bis zum PVC-Schlauch - zu Handwerkerpreisen bietet Fabian Vogl Streetart frei Haus

Von Annette Jäger, Neuhausen

Pizza, Sushi, Bücher, Schuhe, gefrorener Rosenkohl - in Corona-Zeiten hat die boomende Bestellkultur im Internet noch mal zusätzlichen Aufwind erhalten. Jetzt lässt sich auch Streetart nach Hause bestellen. Auf der Homepage des Münchner Künstlers Fabian Vogl kann sich von sofort an jeder seine eigene, vom Künstler individuell angefertigte Baustelle bestellen. Der Kunde wählt die Materialien aus, Vogl baut die sogenannte Passivbaustelle direkt vor der Haustür auf und berechnet Anfahrt, Material und Stundenlohn - rot-weißes Absperrband ist inklusive. Was ziemlich lustig klingt und auch so gemeint ist, hat zudem einen ernsten Hintergrund: Die Entlohnungskultur in der Künstlerbranche, die Fremdbestimmtheit des Schaffenden, die Sehgewohnheiten der Menschen - in den Passivbaustellen klingt alles an.

Das Basispaket Passivbaustelle im Onlineshop www.streetartforyourhome.de ist ein unverbindliches Preisangebot: Anfahrt plus drei Arbeitsstunden kosten 135 Euro. Hinzu kommt das Material. Der Kunde kann aus Baumarkt-Allerlei wählen - von Dachlatte bis PVC-Schlauch, von Gewindestange bis Heliumballon, von Alurohr dehnbar bis Rohrschelle - mindestens vier Utensilien sind zu bestellen. Vogl besorgt alles und liefert direkt vor die Haustür. Dort lässt er sich von einer Hauswand, einem Gehsteig, einem Kanaldeckel oder einem Schild - was auch immer seine Aufmerksamkeit auf sich zieht - inspirieren und baut eine, den örtlichen Gegebenheiten angepasste Baustelle aus dem vorhandenen Material auf. Wer es günstiger wünscht, wählt das Schnellschusspaket für 110 Euro. Eine Fotodokumentation kann der Kunde auf Wunsch als Zusatzleistung per Mausklick in den Warenkorb legen.

Vogls Kreationen sind nur auf den ersten Blick Baustellen, und lassen Passanten achtlos vorübergehen. Erst auf den zweiten Blick entpuppen sie sich als kuriose Installationen, als künstlerische Intervention im öffentlichen Raum. Die Reaktion der Menschen ist Teil der Streetart, sagt Vogl. Er will mit seinen Passivbaustellen die Sehgewohnheiten der Menschen verändern, die oft eher abgestumpft oder "total verkabelt" wie er sagt, durch den Alltag latschen.

Fabian Vogl, Jahrgang 1978, inszeniert seit Jahren seine Passivbaustellen auf allen Kontinenten der Welt. Baustellen seien schließlich weltumfassend, sagt er. Das Projekt funktioniert also quasi überall und ist in seiner Regionalität sogar noch nachhaltig - Vogl benutzt jeweils die im Land gängigen Absperrbänder. Die Idee, die Passivbaustellen per Onlineshop anzubieten, hatte er schon länger, die Corona-Pandemie lieferte den richtigen Zeitpunkt dafür. Die Kunst, so sagt er, müsse nun mehr denn je zu den Menschen kommen, um wahrgenommen zu werden. Und nicht zuletzt kann der Künstler wegen der eingeschränkten Reisemöglichkeiten gerade keine Baustellen in anderen Ländern inszenieren. Deshalb also Kunst per Lieferdienst, das Kulturforum München-West hat sein Projekt finanziell unterstützt.

Für Vogl, der seit 2006 als Konzept- und Installationskünstler arbeitet, sind die Passivbaustellen eine besondere Herausforderung: Üblicherweise, so erklärt er, arbeite er selbstbestimmt, bei den Passivbaustellen sei er jedoch fremdbestimmt. Ort, Zeit, Material gibt der Kunde vor. Auch die Frage der angemessenen Entlohnung für ein Kunstprojekt darf diskutiert werden - Vogl rechnet ab wie ein Handwerker, 20 Euro Anfahrt, 60 Euro Stundenlohn. Streetart ist vergänglich - so auch die Baustellen. Eine Genehmigung für seine Aktionen lässt er sich nicht bei den Behörden erteilen, er begibt sich bewusst in die Grauzone. Wie lange die Baustellen jeweils stehen bleiben, ist völlig offen. Oft sind es Anwohner, die irgendwann genervt die Stellage vor der Haustür wegräumen, gemäß dem Motto "Ist das Kunst oder kann das weg?". In einem Punkt ist sich Vogl sicher: "Ich räum's nicht weg."

"Baustelle frei Haus", Aktionskünstler Fabian Vogl bietet Streetart als Bestellware unter streetartforyourhome.de.

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Quelle:
SZ vom 24.10.2020
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