Neuhausen:Auf der Walz

In den Jahren 1928 und 1929 ist Robert Winterstein auf Wanderschaft. Das, was er sieht und was ihm gefällt, zeichnet er. Heute ist er 107 Jahre alt, und seine Bleistiftbilder sind in einer Ausstellung zu sehen

Von Nicole Graner, Neuhausen

Die Sonne. Er liebt sie sehr. Sie auf der Haut zu spüren, schenkt ihm das Gefühl, frei und unabhängig zu sein. Lebendig. Der lange Tag bekommt eine andere Struktur, wenn er einmal draußen gewesen ist, das Drinnen hinter sich lässt - und wenn es nur für kurze Momente ist. "Jetzt ist Frühling", sagt er leise. Und noch leiser: "Endlich."

Eine braune Cordhose, ein dicker Pullover, die dünnen, weißen Haare zurückgekämmt - so wartet Robert Winterstein in einem Rollstuhl vor seiner Wohnungstür darauf, dass er hinaus kommt in die sonnige Welt, Menschen sieht, Gänseblümchen auf einem kleinen Wiesenstück und die zarten, weißen Blüten eines Kirschbaums vor dem Haus an der Groffstraße. Der Mann, der sich dann mit einem starken Willen aus dem Rollstuhl hochstemmt, mit zittrigen Händen nach dem Geländer tastet und vorsichtig Stufe für Stufe die Treppe nach unten geht, ist am 6. September 1907 in Chemnitz geboren - er ist 107 Jahre alt. Eine Zahl, die so vieles aufmacht: das Wissen, dass zwei Weltkriege sein Leben geprägt haben müssen; die Ahnung, dass er viele Geschichten im Herzen tragen muss, glückliche und schmerzvolle; und die Frage, wie man in einem so hohen Alter so viel Energie aufbringen kann, um täglich spazieren zu gehen, allein in seiner Wohnung zu leben.

Draußen. Robert Winterstein sitzt wieder im Rollstuhl. Sein 65-jähriger Sohn Michael-Gottfried Winterstein, der täglich viele Stunden bei seinem Papa verbringt, ihn bekocht und mit ihm viele Gespräche führt, schiebt ihn in die Sonne zu seinem Lieblingsplatz an der Straßenecke. Vater Winterstein läuft im Sitzen mit den Füßen mit. "Ich habe gute Schuhe, die nicht rutschen", sagt er. "Solange ich da noch Muskeln habe" - der 107-Jährige klopft mit Nachdruck auf seine Beine -, "will ich laufen". Laufen, so wie damals als er von April 1928 bis August 1929 als junger Mann auf Wanderschaft ging. Von seiner Heimat Chemnitz über Hamburg, Kiel nach Berlin wanderte.

Neuhausen: Feiner Strich und guter Blick: Die Windmühle in Jevenstedt.

Feiner Strich und guter Blick: Die Windmühle in Jevenstedt.

Die Sonne scheint. Winterstein genießt, blinzelt in das Licht. Der Wind - den mag er nicht so gerne - zerzaust ihm das gekämmte Haar. Die zarten Hände ruhen auf dem Schoß, während er leise erzählt. Dass er ein "kleiner Junge" war, als der Krieg ausbrach, dass sein Bruder Willi zum Militär musste, an die Front nach Frankreich. Und nie wieder kam. Ein Erlebnis, das, wie Sohn Michael erzählt, "meinem Papa nie ganz aus dem Kopf gegangen ist". Er erzählt, dass er Elektrotechniker, später Konstrukteur für Schaltanlagen wurde, und Gertrud, seine Frau, 1934 im Wilden Kaiser kennenlernte. Gertrud, die er 14 Jahre lang pflegte. Bis zu ihrem Tod.

Ja, seine Wanderjahre. Die waren Robert Winterstein ganz wichtig. "Da hat man etwas gesehen von der Welt", sagt er. Dass er die Dinge, die ihm auf seiner Reise besonders gefallen haben, gezeichnet hat, mag ein Indiz dafür sein, wie gerne er reiste, wie intensiv er seine Umwelt wahrgenommen haben muss. Viele Zeichnungen sind in diesen eineinhalb Jahren entstanden. Burgen, Landschaften und Häuser hat er mit Bleistift festgehalten. Detailgetreu. Liebevoll. Jedes Fenster, jede Turmspitze, jeder Mauervorsprung - alles hat Winterstein mit einem guten Blick für die Perspektive wiedergegeben. Bilder eines schönen, friedlichen Landes. Nach und vor einem Weltkrieg.

Neuhausen: Auch eine Zeichnung des Hamburger Hafens findet sich unter den Bleistiftbildern.

Auch eine Zeichnung des Hamburger Hafens findet sich unter den Bleistiftbildern.

Mit einem weichen Bleistift habe er immer gezeichnet. Nur dann könne man das Schwarz und Weiß gut herausarbeiten, Licht und Schatten, erklärt er. Das Wichtigste aber sei ihm immer die "richtige" Perspektive gewesen. Wie sehr, beweist eine Zeichnung von 1927, in der er in einer Art Gebrauchsanweisung genau beschreibt, wie man die richtige Perspektive hinbekommt.

Winterstein erzählt. Sein sächsischer Dialekt hat sich nicht verloren, die Worte klingen noch immer wie weiches Gemurmel. Passanten kommen vorbei, grüßen freundlich. Beide Männer lächeln und grüßen zurück. Manchmal hilft der Sohn dem Vater, die Worte zu finden. Und manchmal schlägt der 107-Jährige beide Hände auf die Armlehnen des Rollstuhls. Immer wenn er von etwas spricht, das ihm besonders wichtig ist. Seinen Bildern, seiner Eigenständigkeit.

Drinnen. Kaffeegeschirr ist aufgedeckt. Zu gerne hätte der Mann, der die Sonne liebt, gedeckten Apfelkuchen gegessen. Doch der war aus. Kein Kuchen. Dafür liegt da das braune Fotoalbum auf dem Sofatisch. Griffbereit. Liebevoll sind die 38 Original-Zeichnungen eingeklebt. Mit gestochen klarer Schrift hat Winterstein Ort und Datum über die Zeichnungen geschrieben. Behutsam müssen alle, die es in den vielen Jahren schon durchgeblättert haben, mit den Seiten umgegangen sein. Nichts ist zerrissen, kein Bild lose. Noch einmal wird das Album angeschaut, und alles wird wieder gegenwärtig. Wintersteins Stimme wird lauter. Er erinnert sich an die Jugendherberge in Leipzig. "Genau in dieser Zimmerecke", sagt er und deutet auf sein Bild, "habe ich gesessen". Irgendwo, das weiß Winterstein senior nicht mehr so genau, habe man ihm seine Wanderschuhe geklaut.

Neuhausen: Unter den 38 Zeichnungen, die im ASZ Neuhausen zu sehen sind, ist auch die Leuchtenburg bei Kahla an der Saale.

Unter den 38 Zeichnungen, die im ASZ Neuhausen zu sehen sind, ist auch die Leuchtenburg bei Kahla an der Saale.

Nun werden die Zeichnungen in einer Ausstellung im Alten- und Service-Zentrum Neuhausen zu sehen sein. "Die Idee hatte ich schon lange", sagt Michael-Gottfried Winterstein. "Irgendwie war es mir wichtig, dass Menschen diese wunderbaren Zeichnungen sehen können." Eine Woche lang hat sich der Sohn auf die Reise begeben, die sein Vater vor mehr als 80 Jahren gemacht hatte. 3300 Kilometer ist er gefahren, um die Stellen zu suchen, die Robert Winterstein skizziert hat. Er hat sie fotografiert. "Manche Stellen waren total verwachsen, manche habe ich nicht mehr gefunden", erzählt er. Die Fotos werden in der Ausstellung neben die Originale gehängt.

Robert Winterstein hat die Sonne gut getan. Er wird immer gesprächiger. Zwei Mandolinen liegen im Zimmer. Ja, er habe gerne gespielt. Aber mit den Fingern gehe das "jetzt nimmer". "Und was gehört zum Musizieren dazu?", fragt er. Lacht und zwinkert mit seinen Äuglein. "Das Singen." Zur Vernissage will Winterstein kommen. Unbedingt. Auch wenn er vor Aufregung die Tage verwechselt. Am Ende winkt Winterstein. Wünscht sich einen neuen Besuch und eine Spazierfahrt in der Sonne. Ganz bald.

Neuhausen: Guter Zeichner, guter Sänger: Robert Winterstein kam von Chemnitz über Graz 1955 nach München.

Guter Zeichner, guter Sänger: Robert Winterstein kam von Chemnitz über Graz 1955 nach München.

(Foto: privat)

"Aus Sehnsucht nach dem Meer - Papa auf der Walz", Vernissage am Freitag, 24. April, 16.30 Uhr, Treppenhaus, ASZ Neuhausen, Nymphenburger Straße 171, Eintritt frei. Zu sehen bis Juni.

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