Süddeutsche Zeitung

Neuhausen:Alles unter einem Dach

Im neuen Caritas-Stützpunkt an der Arnulfstraße arbeiten der Alveni-Flüchtlingsdienst und der Therapieverbund Sucht Tür an Tür. Es geht vor allem um Synergie-Effekte für die betreuten Menschen

Von Andrea Schlaier, Neuhausen

Als Rosemarie Ghorbani vor 28 Jahren bei der Caritas-Flüchtlingshilfe anfing, saßen sie und die Kollegen noch auf Möbeln vom Sperrmüll, zusammengezwängt in zwei, drei Unterkünften. Kaum Ausstattung, dafür reichlich Idealismus. Seit Juni ist an der Arnulfstraße 83 zu sehen, wie gewaltig sich die Arbeit der Sozialpädagogin ausgeweitet hat. Auf 560 Quadratmetern wird von hier aus seit Juni im lichtdurchfluteten zweiten Stock eines ehemaligen Bürohauses die soziale Flüchtlingsarbeit in nahezu allen Gemeinschaftsunterkünften der Stadt und des Landkreises koordiniert. Ghorbani ist inzwischen Chefin des Alveni-Flüchtlingsdienstes der Caritas, an den Wänden ihres Büros hängen abstrakte Kunst und ein Wiesnherz für "Toleranz". Nahezu den Rest des Hauses bewohnt jetzt ein zweiter großer Caritas-Stützpunkt: der Therapieverbund Sucht München. Ein Betreuungsnetzwerk für Suchtkranke, das es in dieser Form kein zweites Mal in der Stadt gibt. Gerade haben die Partner Einweihung gefeiert.

In beiden Einrichtungen war man sich nicht sicher, ob die Klientel mit dem geschäftsmäßigen Schick, den der gläserne Riegel in Laufnähe zur Donnersbergerbrücke ausstrahlt, nicht ein bisschen fremdeln würde. Das Gegenteil ist der Fall, sagt Margot Wagenhäuser, Geschäftsführerin des Therapieverbundes: "Sie sehen es als Wertschätzung." Für die beiden Caritas-Dienste und ihren Träger, die Erzdiözese München und Freising, galt es, viele bestehende und räumlich beengte Standorte unter einem Dach zusammenzulegen. Dass nun beide Disziplinen eine Wohngemeinschaft bilden, hat wirtschaftliche Gründe. Wagenhäuser und Ghorbani sehen es als Chance für inhaltliche Synergieeffekte, etwa ein Präventivangebot für junge Flüchtlinge, denn viele hätten in ihrem Leben bislang nur wenig oder gar keine Erfahrungen mit Drogen und Alkohol.

Es ist früher Vormittag und noch relativ ruhig im Haus, als Rosemarie Ghorbani durch die langen Flure im zweiten Stock führt. Stolz, wie man es von Menschen kennt, die im überteuerten München doch noch ein hübsches Heim für ihre Familie auftun konnten. Jedes der vielen Zimmer, die hier vom Korridor abzweigen, ist in einer anderen Farbe gehalten: "Damit die Leute, die zu uns kommen, sich erinnern, in welchem Raum sie waren." Und es sind viele, die kommen. Auf der Etage läuft nicht nur die Koordination für die Sozialarbeit in den Gemeinschaftsunterkünften. 200 Mitarbeiter sind dafür im Einsatz und wöchentlich, sagt die Chefin, kommen zehn bis 15 neue dazu, außerdem mehr als tausend Ehrenamtliche. Der Flipchart-Ständer, mitten in ihrem Büro aufgebaut, dokumentiert seismografisch, wo wie viel Hilfe gebraucht wird: Straßennamen der Unterkünfte, Bewohnerzahl, Eröffnungsdatum. Ghorbani zieht eine vorläufige Bilanz: "Wir waren bisher in acht Unterkünften im Einsatz, Ende des Jahres sind es 19." Asylanträge ausfüllen, später Arbeit und Wohnung vermitteln, ist das eine. Zur Stelle sein, "wenn der Bahnhof überläuft", das andere.

Alveni bedeutet in der Weltsprache Esperanto "Ankommen". Sie schauen sich die Ankommenden immer "als Ganzes an", sagt die Sozialpädagogin. Denn Hilfe geben beim Landen und Weiterleben in einer neuen Welt ist die eigentliche Kernkompetenz des Teams: "Wir klopfen ab, was der Mensch mitbringt, der sich fremd fühlt und die Sprache nicht spricht." Ein Beispiel: Den Familienvater aus dem Irak, der in seiner Heimat als Mathelehrer gearbeitet hat, setzen sie als Nachhilfelehrer für irakische Kinder ein. So wird Selbstwert generiert. "Da kommen Menschen mit unheimlichen Ressourcen, die man wach küssen muss. Dann hat die Gesellschaft einen Riesengewinn."

Deshalb bilden sie in der Arnulfstraße auch ehemalige Flüchtlinge zu "Kulturdolmetschern" aus. Die begleiten die Neuen zum Sozialarbeiter, zur Kinderkrankenschwester oder zu Lehrern der Kinder und vermitteln, wenn Kulturwerte oder Normen nicht zusammenzupassen scheinen. Alle gehen sie in den neuen Räumen ein und aus, auch diejenigen, die niederschwellige Deutschkurse besuchen oder Prüfungsvorbereitungen ablegen, sich zum Tanzen und Singen oder in Selbsthilfegruppen treffen. Für eine nachhaltige Integration brauche es tragfähige soziale Beziehungen, glaubt die Alveni-Leiterin. Gleichzeitig mahnte sie bei der feierlichen Einweihung, umringt von Honoratioren aus Kirche und Politik, dass nach dem euphorischen Willkommen am Münchner Hauptbahnhof die Arbeit jetzt erst anfange: "Um den Integrationsprozess zu begleiten, ist der Ausbau der Migrationsberatung dringend überfällig."

Die Einweihungs-Gesellschaft stieß im Aufenthaltsraum der Tagesklinik für Suchtkranke an, fünfter Stock, Glasfassaden über den Dächern von Neuhausen. Die Tagesklinik ist ein wesentlicher Bestandteil des Therapieverbundes Sucht, den Margot Wagenhäuser leitet. Wer entgiftet hierher überwiesen wird, hat die Chance, tagsüber Hilfe für ein cleanes Leben anzunehmen und wird am späten Nachmittag wieder nach Hause entlassen. 24 solcher Plätze gibt es. Die fünf Einrichtungen des Therapieverbundes an der Arnulfstraße füllen beinahe das ganze Haus und sind teilweise eng miteinander verzahnt. Es sind die Fachambulanz für junge Suchtkranke, die für Erwachsene, eine Fachambulanz für Essstörungen und eine für substitutionsgestützte Behandlung, ehemals Methadonambulanz.

Wagenhäuser weiß, dass es in der Nachbarschaft auch Sorge gab, dass im Haus Betrunkene rumhängen könnten. "Wir haben ein hochschwelliges Angebot, die Leute kommen auf Termin, viele sind ja berufstätig. Voraussetzung ist, das sie entgiftet sind", betont sie. Die Tür zum Flur, in dem die Chefin steht, geht auf und nacheinander steuert eine Reihe Männer und Frauen auf einen Raum zu. Selbsthilfegruppe mit Therapeutin. Kann sein, dass einer schon mal in der Tagesklinik war oder die Fachambulanz für Suchtkranke besucht. "Dadurch, dass wir jetzt alle Angebot an einem Standort haben, erwarten wir uns Synergie-Effekte", sagt Wagenhäuser, "schnellere Kommunikationswege". 3100 Patienten begleitet der Verbund im Jahr. Wagenhäuser fühlt ihr Team hier alvenihaft angekommen. Und obendrein seien die Suchtkranken gut verortet: "Sie erreichen uns über die Stammstrecke, müssen aber nicht mehr am Hauptbahnhof vorbei."

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.2693938
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ vom 16.10.2015
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.