Süddeutsche Zeitung

Friedenheim unter Ensembleschutz:"Es ist ein Lottogewinn, wenn man hier rein darf"

In der Weimarer Republik war die Siedlung Neufriedenheim in Laim wegweisend. Noch heute gilt: Wer hier wohnt, zieht meistens nie mehr weg.

Von Ellen Draxel

Die Sonnenuhr mit Tierkreiszeichen am Eckgebäude Fürstenrieder/Ammerseestraße ist ein Hingucker. Jeder, der die A96 Richtung München nimmt und seinen Blick an der Ausfahrt Laim nach links wendet, kennt das Kunstwerk: Seit fast hundert Jahren prangt es nun schon an dieser Fassade, geschaffen vom Kunstmaler Ernst Kozics. Der viergeschossige Riegel oberhalb der Autobahn ist Teil der Siedlung Friedenheim, oder, wie viele Anwohner sagen: Neufriedenheim. Das Gebäude und seine Verlängerung entlang der Fürstenrieder Straße wirken wie ein Bollwerk: Dahinter verbirgt sich eine Dorfidylle, abgeschirmt von den Blicken und vom Straßenlärm.

188 kleine, zweistöckige Häuschen, alle mit Vorgarten, Treppenaufgang, Garten und teils begrünten Fassaden. Von außen gleichen sich die Bauten wie ein Ei dem anderen, lediglich die Farbgebung und die Dekoration machen den Unterschied. "Das ist die einzige Reihenhaussiedlung, die wir bei der Gewofag haben", sagt Klaus-Michael Dengler, der Geschäftsführer der städtischen Wohnungsbaugesellschaft, nicht ohne Stolz. Als eine von fünf Gründersiedlungen der Gemeinnützigen Wohnungsfürsorge A. G. (Gewofag) wurde das von Architekt Bruno Biehler geplante Friedenheim - oder auch Neufriedenheim, benannt nach der damals benachbarten Heilanstalt - 1928 bis 1930 auf der grünen Wiese errichtet.

Zuvor hatte der damalige Münchner SPD-Stadtrat und Wohnungsreferent Karl Preis zur "Beseitigung der Wohnungsnot" den Bau von 12 000 Wohnungen gefordert. "Neufriedenheim", betont Lothar Schmidt vom Historischen Verein Laim, "hat aber nichts mit dem früheren Laimer Ortsteil Friedenheim zu tun". Während dieser bei der Friedenheimer Brücke an der Landsberger Straße lag und heute gänzlich verschwunden ist, sei Neufriedenheim ein "Kunstname, den wohl der Leiter der Nervenheilanstalt, Dr. Rehm, erfunden hatte".

Schützenswert ist Friedenheim oder Neufriedenheim trotz dessen Kunstnamens jedenfalls: Das Bayerische Landesamt für Denkmalpflege hat die Zeilenhäuser zwischen Fürstenrieder, Saherr-, Inderstorfer- und Joergstraße jetzt unter Ensembleschutz gestellt. Die Begründung: "Die schlichte Architektursprache der Bauten und die städtebauliche Anordnung nach damaligen Vorstellungen guter Belichtung und Belüftung" zeige "Einflüsse modernen Bauens in der Zeit der Weimarer Republik". Der soziale Wohnungsbau in München setzte damals einen neuen Standard: Alle Wohnungen der Gewofag-Gründersiedlungen verfügten über fließendes Wasser in Küche und Bad und über eine Toilette mit Spülkasten - damals nicht selbstverständlich.

Kindergärten, Schulen und Kirchen wurden im Siedlungsbau mitberücksichtigt. Es gab Gemeinschaftseinrichtungen, Waschküchen für die Bewohner und Kinderspielplätze. Und man versorgte die "Siedlungen im Grünen" mit den Geschäften des täglichen Bedarfs: mit Einzelhandel, Gastwirtschaften, Werkstätten für Handwerker, Arztpraxen und Apotheken. Eine Pionierleistung, die deutschlandweit einzigartig war. Man wolle, lobte 1930 die Zeitschrift "Die Baukunst", in München "nicht nur Wohnungen herstellen, wie vielfach anderwärts, sondern solche Wohnungen, die der ethischen Wohnforderung genügen, daß sich der Mieter wohl fühlen und zufrieden sein soll." Denn nur dann werde "die Wohnungsnot nicht nur zahlenmäßig, sondern tatsächlich behoben".

Wie aber lebte und lebt es sich in Friedenheim? Einer, der es wissen muss, ist Gerhard Lankes. Der 61-jährige Handwerksmeister ist in der Laimer Siedlung aufgewachsen, hat zwischendurch zwar mal woanders gewohnt, kam 1988 aber zurück. "Es ist ein Lottogewinn, wenn man hier rein darf", weiß er aus Erfahrung. "Damals war ich Geselle und musste mit meiner Frau extra in die Klinik, um ein Ultraschallbild unseres Kindes machen zu lassen - denn nur als Familie bekam man seinerzeit eine Wohnung." Für Lankes war die Rückkehr wie ein Heimkommen. Denn er kennt die meisten Bewohner Friedenheims.

Oma, Opa, Mutter, Schwester, Freunde von Kindestagen an - alle haben sie in der Siedlung gewohnt und tun es großteils noch. Beim Spaziergang durch die Straßen tönt es von überall "Servus", man grüßt sich, mit seinen Nachbarn in der Gaishoferstraße ist Lankes seit Jahren per Du. "Wir sind schon", sagt er, "eine eingeschworene Gemeinschaft". Dabei gibt es in Friedenheim inzwischen 1800 Wohnungen, die Kleinhaussiedlung lag ja nur im ersten Bauabschnitt. Zum Vergleich: Alle fünf Gründersiedlungen bieten 11 000 Mietparteien Wohnraum, der Bestand der Gewofag insgesamt umfasst 39 000 Wohnungen.

Lankes jedenfalls kennt die Gegend noch ohne Autobahn, als Kind ist er auf der Ammerseestraße spazieren gegangen. Er war im einzigen Kindergarten an der zum Quartier gehörenden Namen-Jesu-Kirche, "Erzieherinnen gab es da noch nicht, wir sind von Ordensschwestern in Kutten betreut worden, mittags bekam man ein warmes Essen." Auch Lankes Töchter, heute 28 und 33 Jahre alt und noch immer in Friedenheim wohnend, besuchten diese Einrichtung. Alle Kinder gingen in die Senftenauer Schule, viele lernten im heute denkmalgeschützten Brunnen "Mutter mit Kind" an der Reindlstraße schwimmen.

Lankes erinnert sich sogar noch, wie er und seine Freunde immer Ärger bekamen, weil sie aus dem "Peterl-Brünnlein" an der Stürzerstraße Wasser für den Bau ihrer Sandburgen entnahmen. "Wir wurden dann geschimpft wegen des Sandes im Brunnen", erzählt er schmunzelnd. An der Inderstorferstraße gab es einen Metzger, einen Bäcker, einen Schuster, den Lebensmittelhändler "Konsum" - die komplette Nahversorgung war fußläufig erreichbar. Weil zu jedem Laden auch eine Wohnung gehörte, brauchte der Ladenbetreiber nur eine Tür zu durchschreiten, um zu seinen Privaträumen zu gelangen.

Und heute? Idyllisch wirkt Friedenheim noch immer, auch die homogene Mieterstruktur gibt es nach wie vor, weshalb die Gewofag erst vor wenigen Jahren einen Wohnen-im-Viertel-Standort in die Siedlung integriert hat. Samt Bewohnercafé und Arztpraxis, um die Versorgungssicherheit im Alter zu garantieren. Es ist der einzige Neubau im Quartier. Allerdings, relativiert Gerhard Lankes, geschehe gerade wieder ein Wechsel. Und nicht alle, die neu zuzögen, fügten sich harmonisch in die Gemeinschaft ein. Viele blieben auch lieber für sich, igelten sich ein. Das sei aber "ein allgemeines Thema, das ist nicht nur bei uns so".

Dazu passe, dass natürlich die Häuser zwar charmant und bezahlbar, aber eben auch "einfach" seien. "Wir haben einen unbeheizten Keller und ein nicht heizbares Treppenhaus, das musst Du mögen. Und man sollte auch ein bisschen handwerklich geschickt sein, wenn man hier wohnen möchte. Das wollen viele nicht mehr." Dass sich die Leute, die er kennt, trotzdem glücklich schätzen, in Friedenheim eine Wohnung zu haben, belegt ein Satz, den Lankes von den hochbetagten Bewohnern hört: "Wenn wir hier rausgehen", sagen sie, "dann nur waagrecht".

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