Süddeutsche Zeitung

Neues Wikipedia-Büro:Wissen für alle

Patrick Fischer hat 1600 Artikel zu Osttimor verfasst, Wolfgang Rieger schreibt über antike Ortschaften in Nordafrika und "Kritzolina" über Lyrikerinnen - fünf Wikipedianer im Kurzportrait

Von Silke Lode

Der Insel-Experte

In wohl keiner anderen Sprache der Welt finden sich auf den Wikipedia-Seiten so umfangreiche und viele Einträge zu Osttimor. Verfasst hat die Texte über den Inselstaat, der an Indonesien grenzt, fast ausschließlich Patrick Fischer. Der 43-Jährige lebt in Markt Schwaben und ist von Beruf nicht etwa Südostasien-Experte, sondern Diplomingenieur für Chemie mit einem Job bei einem kleinen Biotech-Unternehmen. "Freizeit und Beruf sind bei mir nicht das gleiche", sagt Fischer, das ist in seinen Augen auch gar nicht nötig: "Die Wikipedia hat in Deutschlange eine ungeheuer gute Chemie-Redaktion." Aber ohne ihn gäbe es mit ziemlicher Sicherheit niemanden, der so viel Zeit damit verbringen würde, Informationen aller Art über Osttimor zu sammeln und sie in inzwischen mehr als 1600 Wikipedia-Einträgen aufzubereiten. Allein sein Projekt, über jeden einzelnen Ort des Landes einen Eintrag zu verfassen, hat ihn über zwei Jahre fast jeden Abend und die Wochenenden gekostet.

Auslöser seiner Osttimor-Begeisterung war ein einziger Besuch, der inzwischen bereits 14 Jahre zurück liegt. Osttimor war damals gerade erst international als unabhängiger Staat anerkannt worden, für seinen neuntägigen Besuch hatte Fischer weder einen Reiseführer noch eine Landkarte, die den Namen verdient hätte. "Ich wollte danach einfach etwas für das Land tun, also habe ich mich entschieden, es bekannter zu machen, indem ich darüber schreibe." Aus der Urlaubsidee ist inzwischen fast schon eine Sucht geworden. "Wie ein Hamster" sammle er im Internet und in Medien jeden Informationsschnipsel, den er ergattern könne, sagt Fischer. Er bittet Leute in Osttimor, ihm Fotos zur Illustration seiner Texte zu schicken, vernetzt sich in Facebook-Gruppen und hält Kontakt zu internationalen Organisationen im Land.

Seine Zwischenbilanz nach fast 4000 Tagen als Wikipedia-Autor: 2280 Artikel, die von ihm begonnen wurden, 85 000 Bearbeitungen, zudem hat er von Osttimor mit der Kartenwerkstatt von Wikipedia so gute Landkarten erstellt, dass Fischer sie inzwischen sogar in staatlichen Publikationen Osttimors wiedergefunden hat. Früher hat Fischer auch viel über Flaggenkunde und Nationalflaggen geschrieben, "aber da war mir das Konfliktpotenzial auf Dauer zu groß". Gelegentlich pickt er sich mal ein Zufallsthema heraus, die Hubertuskapelle im Ebersberger Forst etwa. Solche Beiträge machen weit weniger Ärger: "Das ist mein Hobby, da ist die Leidensgrenze, die man bereit ist zu erdulden, doch eher niedrig."

Der Bessermacher

Ausgerechnet in San Francisco hat Burkhardt Mücke seinen Weg zu Wikipedia gefunden. An der US-Westküste gibt es tatsächlich einen Stammtisch deutscher Wikipedianer, auf den Mücke stieß. 40 Jahre war er beim Bayerischen Rundfunk beschäftigt gewesen, mal als Landtagsreporter, mal für den "Report aus München", zuletzt 15 Jahre für die Gartensendung Querbeet. "Nach dem Ruhestand wollte ich, dass meine grauen Zellen in Bewegung bleiben", sagt Mücke.

Neue Artikel wie jenen über die Isar-Renaturierung oder das Geburtshaus von Karl Valentin verfasst er nur selten, die Spezialität des Ex-Redakteurs ist die Verbesserung bestehender Artikel. Mal überprüft er frische Änderungen nur, mal schreibt er Sätze um, manchmal müssen ganze Artikel neu verfasst werden. 800 Texte hat Mücke auf seiner Beobachtungsliste, sobald jemand die kleinste Änderung vornimmt, kann er das nachvollziehen. Sein Benutzername "Pimpinellus" deutet darauf hin, was sein Lieblingsthema ist: Biologie und Botanik. Auch in der Film- und Fernsehredaktion von Wikipedia ist Mücke aktiv, "aber erst, nachdem ich nicht mehr beruflich als Journalist tätig war", wie er betont. Sein ehrenamtliches Engagement hat ein ganz klares Motiv: "Ich will etwas zurückgeben für viele Jahre Nutzung der Wikipedia-Inhalte."

Der Vielschreiber

Es gibt wohl nicht viele Wikipedia-Autoren, die schon länger an der Erstellung der Online-Enzyklopädie mitarbeiten als Wolfgang Rieger. Zwei Jahre nach der offiziellen Gründung von Wikipedia verfasste der Mathematiker und Softwareingenieur seinen ersten Artikel - über Klaus Mann. Sein Interesse an Literatur, Schriftstellern und Verlagen zieht sich quer durch sein Autorenprofil; hinzu kommen - wie er selbst sagt - "viele randständige Themen". Rieger schreibt über antike Mythologie, er hat ellenlange Listen von vergessenen Ortschaften aus der Antike in Nordafrika erstellt und in Lexikon-Einträgen abgearbeitet. Über poetisches Fachvokabular gibt es von ihm ebenso Artikel wie über indische Mythologie. Wolfgang Rieger ist ein Vielschreiber: "Mein Fokus liegt auf neuen Artikeln." Doch er tut noch sehr viel mehr für Wikipedia. Früher hat Rieger vor allem gemeinfreie Gemälde aus Kunstbänden eingescannt, dann war er zwei Jahre lang einer der Wikipedia-Administratoren. Jetzt hat er ein neues Projekt: das WikiMUC-Büro. Rieger gehört zu den treibenden Kräften hinter der Münchner Dependance, gemeinsam mit Burkhard Mücke hat er die Immobilie gesucht, gefunden und sich um die Einrichtung gekümmert. Sein großes Projekt für die neuen Räumlichkeiten ist eine Veranstaltungsreihe, Arbeitstitel: "Gemein und Frei" - dahinter verbergen sich Lesungen von gemeinfreien Texten. Auch auf ganz anderer Ebene ist Rieger engagiert, nämlich bei der Nachwuchsförderung. Dafür hat er intern auch schon eine Auszeichnung bekommen - für die Unterstützung von mehr als 50 Mentees.

Der Hobby-Historiker

Wenn man nach einer typischen Biografie eines Wikipedianers sucht, dann ist man bei Christian Kaul an der richtigen Adresse: 30 Jahre alt, Softwareentwickler, oben drauf ein ausgeprägtes Interesse für ganz andere Themen. In seinem Fall: Alte und Mittlere Geschichte. "Mir ist in der Schule aufgefallen, dass immer mehr Mitschüler als Quelle bei ihren Facharbeiten Wikipedia angegeben haben", erzählt der gebürtige Straubinger. Er hat beschlossen, einfach selbst mitzumachen und schrieb einen Artikel über Fredl Fesl - "von dem hatte ich eine CD rumliegen". Geschichte hat ihn zwar immer interessiert, "aber karrieretechnisch wäre das schwierig gewesen", meint er. Schon sehr früh - mit 20 - wählten ihn die Wikipedianer zu einem ihrer Administratoren. "Viele Benutzer meinen, wir sind eine Clique, die ihr Vorgehen eng abspricht", sagt Kaul. Das sei aber gar nicht so, "vielleicht findet das sogar zu wenig statt". Er beschreibt die Arbeit der Aufpasser so: "Es gibt fast keine Koordination, jeder macht, was er will - im Rahmen dessen, was er darf und womit er durchkommt." Einmal zum Beispiel hatte er einen Artikel über eine Stiftung vorliegen, der für nicht ausreichend relevant gehalten wurde. Der Autor hat weiter recherchiert, eine neue Version auf seine Seite gestellt und diese zur Löschprüfung gegeben. "Da kann sich jeder melden, der meint, ein Artikel sei zu Unrecht gelöscht worden, oder der meint, ein Text muss gelöscht werden." Denn während jeder Benutzer Änderungen an bestehenden Texten vornehmen kann, können nur die gut 200 Administratoren ganze Artikel löschen.

Was Kaul besonders interessiert, sind die Auseinandersetzungen, die es zwischen der freien Enzyklopädie und den Universitäten gibt. Im Geschichtsbereich hat er schon an Tagungen mit Historikern und Wikipedianern teilgenommen. Stolz erzählt Kaul, dass es auch an Universitäten Professoren gebe, die Wikipedia gut finden: "Das gibt uns den Ritterschlag."

Die Lyrik-Fachfrau

Wer sich anschaut, welche Wikipedia-Artikel auf die Benutzerin "Kritzolina" zurückgehen, wird wahrscheinlich nur mit den Schultern zucken: Sabina Lorenz? Maya Rinderer? Kritzolina hat ein ausgeprägtes Interesse für Lyrik, "ich kenne viele zeitgenössische Autoren und Autorinnen, viele von ihnen haben keinen Wikipedia-Artikel", sagt Kritzolina, die mit dem Schwerpunkt Lyrik auch in der Redaktion einer Literaturzeitschrift tätig ist und selbst einen Band mit Gedichten veröffentlicht hat. Ihr Geld verdient sie aber als Sozialpädagogin. Weil sie nicht möchte, dass sie von Klienten auf ihr Hobby angesprochen wird, tritt sie nur mit ihrem Benutzernamen auf.

Kritzolina ist noch relativ neu dabei, 2014 schrieb sie ihre ersten Wikipedia-Artikel. Mehr als 100 Artikel hat sie bereits verfasst, vor allem aber mehr als 15 000 Bearbeitungen vorgenommen - vom falschen Komma bis zur Löschung ganzer Artikel. Kritzolina gehört inzwischen zu den gut 200 Administratoren des deutschsprachigen Teils der Enzyklopädie, die über solche Rechte verfügen. "Manche Änderungen, die ich vornehme, haben mit dem Blödsinn zu tun, den Schüler aus Langeweile über ihren Banknachbarn in die Wikipedia schreiben", erzählt Kritzolina. Es gibt aber auch ernstere Konflikte, zum Teil zwischen den Usern, zum Teil, weil die Regeln des Lexikons verletzt werden. So wachen die Administratoren zum Beispiel streng über die Einhaltung der Relevanzkriterien, denn nicht jede Person oder jedes Thema hat einen Eintrag verdient. "Der Ton der Debatten entgleist leider schnell", berichtet Kritzolina. "Da kommen mir meine beruflichen Fähigkeiten aus dem Bereich Konfliktlösung sehr zugute."

Es ist übrigens kein Zufall, dass Kritzolina die einzige Frau ist, die auf dieser Seite vorstellt wird - Frauen sind bei der Wikipedia nach wie vor eine Minderheit. Kritzolina hat eine Vermutung, warum das so ist: "Frauen sind nicht so technikaffin, gerade am Anfang sind vor allem die klassischen Nerds zu Wikipedia gekommen." Zum Teil sei es auch heute noch so, dass die Redekultur selbst im persönlichen Umgang "an den ruppigen Ton erinnert, wie er bei vielen Chats im Netz gepflegt wird", sagt sie. Kritzolina hat sich nicht abschrecken lassen, davon zeugt auch eine Auszeichnung, die ihr ein Wikipedia-Nutzer auf ihrer Autorenseite verliehen hat: Einen grünen Monster-Smiley mit dem Namen "Schreckenskritzi". Darunter steht eine eigentliche schöne Würdigung: "Für das erfolgreiche Verbreiten von Angst und Schrecken im Chat - im Dienste der Verbesserung unserer Enzyklopädie".

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Quelle:
SZ vom 23.06.2016
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