Neues Gedenkbuch:Fünf Münchner Euthanasie-Opfer, die ermordet und vergessen wurden

nur für Görl Geschichte !!!

Der kleine Wolfgang Sandlein mit Mutter und Freunden bei einem Ausflug um 1942. Zwei Jahre später wurde er von den Nazis ermordet.

(Foto: Privatbesitz Elisabeth Pölzl)
  • Das NS-Regime ließ mehr als 217 000 Menschen mit psychischen Krankheiten oder mit Behinderungen ermorden.
  • Ein Gedenkbuch erinnert an die Münchner Opfer - viele von ihnen Kinder.
  • Der Bezirk Oberbayern als Mitherausgeber will zur Aufarbeitung dieser Verbrechen beitragen.

Von Wolfgang Görl

Wolfgang Sandlein, geboren am 18. Juni 1941, war das Kind einer Arbeiterfamilie aus dem Münchner Norden. Seit seinem dritten Lebensjahr litt der Bub an epileptischen Anfällen, die Ärzte diagnostizierten einen schweren Gehirnschaden. Am 2. Mai 1944 kam Wolfgang in die "Kinderfachabteilung" der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erfolgte die Meldung an den "Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden". Hinter diesem Namen verbarg sich die in Berlin ansässige Tarnorganisation für die Erfassung, Selektion und Tötung behinderter Kinder.

Für die "Bewertung" der nach Berlin gemeldeten Kranken war in Eglfing-Haar Dr. Gustav Eidam - er erhängte sich 1945 in Untersuchungshaft - zuständig, der in Wolfgangs Fall ausschließlich Defizite beschrieb: "Kann nicht sitzen, gehen oder stehen. Kein Sprachverständnis. Kein Sprechvermögen." Zudem sei das Kind "unrein" und "hochgradig pflegebedürftig". Dies war das Todesurteil. Am 3. Juli traf die "Behandlungsermächtigung" des Reichsausschusses ein, die nichts anderes war als die Erlaubnis zum Mord. Wolfgang erhielt das Medikament Luminal in tödlichen Dosen. Der Bub starb am 7. August 1944 - einer von 332 Kinder und Jugendlichen, die in Eglfing-Haar ermordet wurden. Der Familie teilte man mit, das Kind sei an Lungenentzündung gestorben.

Wolfgang Sandleins Leidensweg ist im soeben erschienenen "Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde" beschrieben, das die Wissenschaftler Michael von Cranach, Annette Eberle, Gerrit Hohendorf und Sibylle von Tiedemann herausgegeben haben. Darin stehen nicht nur die Namen und Lebensdaten von 2026 Münchner Bürgern, die Opfer der nationalsozialistischen "Euthanasie"-Morde wurden, sondern auch ausgezeichnet recherchierte Aufsätze zur Geschichte dieser Verbrechen, zur Rolle der Angehörigen und zur gescheiterten juristischen Aufklärung nach dem Krieg, inklusive Verdrängung, Vertuschung und Leugnung.

Insgesamt sind in den Jahren von 1939 bis 1945 auf dem damaligen Reichsgebiet einschließlich Österreich etwa 217 000 psychisch kranke Menschen sowie Menschen mit Behinderungen von Ärzten und Pflegepersonal im Rahmen eines staatlich gelenkten Vernichtungsprogramms ermordet worden. In der Einleitung schreiben die Herausgeber: "Die Täter verschleierten die Morde als 'Euthanasie', als ärztliche Erlösung von Leiden. Hinter den Mordaktionen verbarg sich die Vision eines 'rassisch reinen', gesunden und starken Volkskörpers, in dem kein Platz sei für kranke, nicht mehr leistungsfähige, der Fürsorge bedürftige und unangepasste Menschen."

"Die Opfer der Euthanasiemorde sind über Jahrzehnte verschwiegen worden", sagt Mitherausgeber Michael von Cranach, der 26 Jahre lang ärztlicher Direktor des Bezirkskrankenhauses Kaufbeuren war. Die Gründe, fügt er hinzu, sind vielfältig. Eines der Verdrängungsmotive sei die Tatsache, dass psychisch kranke Menschen noch immer stigmatisiert würden. Hinzu komme, dass es nach 1945 keine Zäsur in der Psychiatrie gegeben habe. "Die Hunderte von Ärzten, Schwestern und Pflegern blieben alle vor Ort, und es gab nur ganz wenige und völlig verharmlosende Prozesse." Die deutsche Nachkriegsjustiz habe schlichtweg kein Interesse gehabt, die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Für Cranach und seine Arbeitsgruppe "Psychiatrie und Fürsorge im Nationalsozialismus in München" war es wichtig, die Namen der Ermordeten zu veröffentlichen. "Durch die Nennung der Namen der Verfolgten und der Opfer erinnert die Gesellschaft, hier die Stadt München und ihre Bürger, an sie als Personen, als soziale und politische Subjekte, an ihre Individualität und an die Bedingungen, die zum Auslöschen ihres Lebens führten".

Dabei aber, berichtet Cranach, tauchte ein Problem auf: "Viele sagten, wir dürfen die Namen nicht nennen, weil nach dem Archivgesetz die Rechte der Nachfahren beeinträchtigt werden, wenn in der Öffentlichkeit bekannt wird, dass ein Verwandter psychisch krank war." Zu dieser Frage gab es eine Tagung in München sowie ein Gutachten, und schließlich nahm sich Kulturstaatsministerin Monika Grütters der Sache an, was nach einer abermaligen Tagung zu dem Ergebnis führte, dass die Nennung der Namen rechtlich unbedenklich sei.

Tod aus vielerlei Gründen

Die Recherche selbst, sagt Cranach, "war kompliziert". Das gilt weniger für die erste Phase der Euthanasiemorde, die Anfang 1940 begann. Unter der Tarnbezeichnung "T 4" bezog der bürokratische Apparat der Krankentötungsmaschinerie eine Villa in der Berliner Tiergartenstraße 4. Die dortigen Schreibtischtäter ließen insgesamt sechs im Reich verteilte Vernichtungsanstalten errichten, in denen die Patienten vergast wurden. Über Leben und Tod entschied anhand von Meldebögen ein Gutachterteam, dem auch Hermann Pfannmüller (1886-1961) angehörte, der Direktor der Anstalt Eglfing-Haar.

Die erste T4-Aktion im Deutschen Reich - zuvor waren schon psychisch Kranke in Polen ermordet worden - fand am 18. Januar 1940 statt: Ein Bus brachte 25 männliche Patienten von Eglfing-Haar in die Tötungsanstalt Grafeneck, wo sie noch am selben Tag mit Gas umgebracht wurden. Nach bisherigem Kenntnisstand sind 1014 Münchner in den Gaskammern der "Aktion T4" ermordet worden. Diese Phase endete im August 1941.

Cranach nennt dafür drei Gründe: Zum einen gab es Unruhe in der Bevölkerung, mutige Menschen beschwerten sich. Auch in der Kirche wurden vereinzelt kritische Stimmen laut, vor allem die Protestpredigt des Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, zeitigte Wirkung. Und schließlich, so Cranach, hatten die Nazis ein weitaus umfangreicheres Tötungsprogramm auf der Tagesordnung: die Ermordung der jüdischen Bevölkerung, für welche die Euthanasie eine Art Probelauf gewesen sei.

Waren die Namen der T4-Opfer anhand überlieferter Listen noch relativ leicht zu ermitteln, so gestaltete sich die Identifizierung der in der folgenden Phase Ermordeten erheblich schwieriger. Vom Sommer 1941 bis Kriegsende wurden die Patienten in den Anstalten selbst, sozusagen dezentral, getötet. Für Cranachs Recherchen bedeutete dies: Alle Krankengeschichten der Patienten, die zur fraglichen Zeit in Eglfing-Haar gestorben sind, zu durchforsten und herauszufinden, ob ihr Tod natürliche Ursachen hatte oder ob es Mord war. Welcher Geist damals in der Anstalt herrschte, zeigt ein Zitat des Direktors Pfannmüller: "Ich erachte es an dieser Stelle für angebracht, einmal offen und in aller Deutlichkeit auf die Notwendigkeit hinzuweisen, dass wir Ärzte hinsichtlich ärztlicher Betreuung lebensunwerten Lebens auch die letzte Konsequenz im Sinne der Ausmerze ziehen."

Die Ärzte praktizierten diverse Tötungsmethoden: "Das Spektrum reicht von der gezielten medizinischen und pflegerischen Vernachlässigung einzelner Patienten, über den systematischen Nahrungsmittelentzug (Verhungernlassen) bis hin zur Tötung durch überdosierte Medikamentenabgabe." In der Krankenakte, so Cranachs Erfahrung, war in solchen Fällen wenig verzeichnet, oder es fanden sich nichtfachliche, verächtliche Beurteilungen: "Völlig verblödet. Unsauber. Unrein. Seit über 6 Jahren zu keiner Beschäftigung zu bringen. Asozial. Lebensunwert." Und am Ende dann: "Exitus, Bronchopneumonie". Für die Forscher ein untrügliches Zeichen: Das war ein "Euthanasiepatient".

Die tatsächliche Todesursache sollte niemand erfahren, schon gar nicht die Angehörigen. Wie zynisch man vorging, zeigt ein Brief, den die Familie eines bei der "Aktion T4" ermordeten Münchners mitsamt einer gefälschten Sterbeurkunde erhielt. Der Patient, logen die Verfasser, sei an plötzlich aufgetretener "Lungenentzündung" gestorben. Dann der unverfrorene Satz: "Wir bitten Sie, in dem Gedanken Trost zu finden, dass Ihr Sohn, wenngleich er auch jung aus dem Leben geschieden ist, von einem schweren und unheilbaren Leiden erlöst wurde, das ihn nur zeitlebens an die Anstalt gefesselt hätte."

Gedenkbuch für die Münchner Opfer der nationalsozialistischen 'Euthanasie'-Morde. Herausgegeben vom NS-Dokumentationszentrum und dem Bezirk Oberbayern durch Michael von Cranach, Annette Eberle, Gerrit Hohendorf und Sibylle von Tiedemann. Wallstein Verlag. 432 Seiten, 24,90 Euro.

Irmgard Burger

Irmgard Burger war im April 1898 als Tochter der Arztfamilie Blankenstein in Berlin auf die Welt gekommen. Nach einer behüteten Kindheit - einige Jahre verbrachte sie in einem englischen Internat - heiratete sie in München den Lehrer Franz Burger. Nach der Geburt ihrer jüngeren Tochter Melitta im Jahr 1920 plagten sie zunehmend Verfolgungsängste. Die Ärzte diagnostizierten Schizophrenie, mehrmals kam sie in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Später kümmerte sich die Haushälterin um die kranke Frau, die in der Schwabinger Wohnung der Familie in einem eigenen Zimmer lebte.

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Irmgard Burger auf einem Foto aus der Zeit um 1910.

1933, kurz nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten, starb ihr Ehemann. Die Haushälterin, die nach Franz Burgers Tod geheiratet hatte, betreute die Witwe weiterhin. Als die Pflegerin 1943 ausgebombt wurde, kam Irmgard Burger in die psychiatrische Abteilung des Schwabinger Krankenhauses. Zum Ende des Jahres verlegte man sie nach Haar-Eglfing. Bereits bei der Klinikaufnahme wurde sie in der Patientenakte in der damals typischen Weise sehr negativ beschrieben - dies kam einem Todesurteil gleich.

Irmgard Burger starb am 7. Dezember 1944 in der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar. Der Arzt Anton von Braunmühl, der die Frau zuletzt behandelt hatte, gab als Todesursache Marasmus an - also eine starke körperliche Auszehrung. Am Ende wog die Patientin noch 30,5 Kilo bei einer Körpergröße von 1,60 Meter. Innerhalb eines knappen Jahres hatte sie fast 26 Kilo verloren.

Nach Kriegsende hatte ihre Tochter Melitta versucht, Genaueres über den Tod ihrer Mutter herauszufinden. Anton von Braunmühl wimmelte sie jedoch ab. Erst 70 Jahre später hat Melitta Burger erfahren, dass die Mutter in der Heilanstalt den Hungertod infolge vorsätzlichen Nahrungsentzugs erlitten hatte.

Emmy Rowohlt

Als die Schauspielerin Emmy Rowohlt, geboren 1883 in Hamburg, am 10. November 1939 in der psychiatrischen Abteilung des Gefängnisses Stadelheim für unzurechnungsfähig erklärt wurde, schien der Psychiater sie damit eher schützen zu wollen. Rowohlt war nämlich zum dritten Mal wegen Verstoßes gegen das Heimtückegesetz angeklagt worden, weil sie, wie es in der Polizeiakte hieß, öffentlich "äußerst gehässige, ketzerische und von niedriger Gesinnung zeugende Äußerungen gegen den Führer und andere führende Persönlichkeiten des Staates und der Regierung" von sich gegeben habe.

In den Zwanzigerjahren hatte Rowohlt einige Zeit in Italien und Frankreich verbracht, 1935 kehrte sie nach München zurück. Sie trat am Staatstheater und an den Kammerspielen auf, daneben arbeitete sie als Dolmetscherin. Nun aber saß die gebildete Frau in Stadelheim, wenige Monate später wurde sie in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar überwiesen. Nachdem sie sich vergeblich um ihre Entlassung bemüht hatte, überwältigte sie im April 1941 mit drei anderen Patientinnen eine Nachtschwester und floh. Nach einigen Tagen kehrte sie zurück und wurde isoliert.

Gut zwei Jahre später wurde Rowohlt "aus organisatorischen Gründen" in ein Hungerhaus gesperrt. Ihrer Schwester schrieb sie: "Ahntest du meinen großen Brothunger. Du hättest sicher noch 2 dicke Scheiben Schwarzbrot dazu gelegt." Als sie am 28. September 1944 starb, wog die 1,68 Meter große Frau nur noch 38 Kilo.

Thea Diem

Thea Diem wurde am 21. März 1908 in München geboren, sie lebte mit ihrer Familie in einer Dreizimmerwohnung in Nymphenburg, ein gescheites und sehr musikalisches Kind. Ihre Eltern stammten aus Niederbayern, der Vater war königlich bayerischer Postpackmeister. Wie ihre beiden älteren Schwestern besuchte Thea die Mädchenschule der Englischen Fräulein in Pasing. Die Ferien verbrachte die Familie häufig bei Verwandten in Niederbayern. Thea hatte auch einen jüngeren Bruder, welcher der Liebling der drei Schwestern war. Leider erkrankte der Bruder bald, trotz mehrerer Operationen starb er im Alter von sieben Jahren.

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Thea Diem (Mitte) mit ihren Schwestern, circa 1917.

(Foto: Privatbesitz Lisa Wanninger)

Als Thea 19 Jahre alt war, erlitt sie mehrere epileptische Anfälle. Die Mutter war damit überfordert, der Vater war beruflich häufig unterwegs. So beschlossen die Eltern, Thea in die Assoziationsanstalt Schönbrunn bei Dachau zu geben. Sie hofften, ihre Tochter würde unter der Aufsicht der Franziskanerinnen Heilung oder wenigstens Besserung erfahren. In Schönbrunn kam Thea in eine Wohngruppe für Epilepsie-Kranke, wo sie die Familie regelmäßig besuchte.

Am 9. April 1941 wurde Thea Diem von Schönbrunn in die Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar verlegt. Dort blieb die junge Frau nicht lange. Knapp drei Woche später deportierte man die 33-Jährige in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz, wo sie vermutlich noch am selben Tag mit Gas ermordet wurde. Sie war eines der mehr als 70 000 Opfer der "Aktion T4". Den Eltern teilte man brieflich mit, dass ihre Tochter an einer Lungenentzündung gestorben sei. Gegen Zahlung eines bestimmten Betrags, hieß es weiter, könnten sie die Urne mit der Asche abholen.

Josef Prechtl

Josef Prechtl, geboren am 16. April 1922 in Schwabing, wuchs in der Herzogstraße auf, seine Mutter war Hausfrau, der Vater arbeitete als Abteilungsleiter in einer größeren Firma. Das Kind litt an Epilepsie, im Februar 1927 wurde Josef in die Assoziationsanstalt Schönbrunn aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt war der Bub knapp fünf Jahre alt.

In Schönbrunn verbrachte der Patient Josef Prechtl viele Jahre. Seine Eltern besuchten ihn häufig, Besserung stellte sich offenbar nicht ein. Er war 18 Jahre alt, als die Anstalt im September 1940 einen Meldebogen ausfüllte, der für die Zentrale der "Aktion T4" bestimmt war, deren Gutachter über Leben und Tod der gemeldeten Patienten entschieden. Prechtls Schicksal war damit besiegelt. Im Meldebogen hatte man ihn als "arbeitsunfähig" bezeichnet, womit er nach den menschenverachtenden Vorstellungen der Nazis das Leben verwirkt hatte.

Hermann Pfannmüller, Gutachter und Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Eglfing-Haar, hatte nach Kriegsbeginn geschrieben: "Die Vorstellung (ist) untragbar, dass beste, blühende Jugend an der Front ihr Leben lassen muss, damit verblödete Asoziale und unverantwortliche Antisoziale in den Anstalten ein gesichertes Dasein haben." Josef Prechtl wurde zunächst nach Eglfing-Haar deportiert und am 29. April 1941 in die Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Den Eltern teilte die Anstalt mit, ihr Sohn sei an einer Lungenentzündung gestorben.

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