"Neues Gabriel":Das älteste Kino der Welt

Zuschauer durften sitzen bleiben, bis sie es auf den harten Bänken nicht mehr aushielten: Das älteste Kino der Welt wird 100.

Dagmar Müller

Unbequem müssen sie gewesen sein, die Bierbänke, auf denen die Zuschauer Anfang des letzten Jahrhunderts in Carl Gabriels Lichtspielhaus saßen. Aber damals gab es schon einen Komfort, der noch heute in den Kinos üblich ist: Die Maß Bier konnte man abstellen, in groben Drahtkörben, die hinter der Sitzfläche des Vordermannes angebracht waren.

"Neues Gabriel": Alexandra Gmell: Mit Bonuskarten holte sie wieder mehr Gäste in das "Neue Gabriel".

Alexandra Gmell: Mit Bonuskarten holte sie wieder mehr Gäste in das "Neue Gabriel".

(Foto: Foto: Robert Haas)

Damit hatte man beide Hände frei, um bequem während des Filmes eine Wurstsemmel oder ein Stück Schokolade zu essen. Auch heute wird im Neuen Gabriel Kino Bier verkauft, jedoch im Halbliterglas, und statt Wurstsemmeln gibt es Popcorn. Aber die Gestelle fürs Getränk, die gibt es immer noch - wenn auch aus Plastik und in der Armlehne versenkt.

Vom ursprünglichen Lichtspielhaus ist nicht mehr viel zu sehen. Die große Renovierung 1956 hat nahezu alle Spuren verwischt. Und auch von diesem Umbau ist nur noch das Foyer übrig: der Marmorboden und die schön geschwungene Stehtheke, die so anziehend wirkt, dass man unbedingt ein Bier an ihr trinken möchte. Ansonsten findet man im Neuen Gabriel moderne, bequeme Kinosessel - die mit dem Loch in der Lehne fürs Getränk - und anspruchsvolle Vorführtechnik.

Als Carl Gabriel dieses Kino vor 100 Jahren mit dem modischen Namen "The American Bio.-Cie" gründete, war noch nicht vorhersehbar, dass es mal das älteste Kino der Welt werden sollte. Im Guinness-Buch der Rekorde ist es nicht zu finden. Dort gilt das 1908 gegründete Stettiner "Pionier Kino" als das älteste.

Hans Walter Büche, der das Neue Gabriel in dritter Generation leitet, sieht keine Veranlassung, sein Kino zum Rekord anzumelden: "Was bringt's denn schon?", fragt er gelassen. Büche ist es wichtiger, dass sein Betrieb läuft. Mehrfach stand er schon vor dem sicheren Aus und musste sich oft Neues auszudenken, um eine Pleite abzuwenden.

Das älteste Kino der Welt

Der Gründer, Carl Gabriel, brachte viele der großen Unterhaltungsattraktionen nach München: Mit dem Teufelsrad, dem Hippodrom und dem ersten Riesenrad auf der Wiesn ging er als "Oktoberfestkönig" in die Stadtgeschichte ein. Heute würde man ihn einen Trendsetter nennen, denn er hatte ein Händchen für Publikumsmagneten. 1894 eröffnete Gabriel zusammen mit Emil Hammer das "Panoptikum" in der Neuhauser Straße.

Den Münchnern bescherten dort eine schaurige Sammlung von Folterwerkzeugen und ein Verbrecher-Wachsfigurenkabinett das große Gruseln. Gabriel und Hammer erweiterten ihre Ausstellung laufend mit Sensationen. So wie 1896, als sie das erste Mal "lebende Bilder" vorführten.

Wenn die Augen schmerzen

Schon ein Jahr, nachdem die Brüder Lumière ihren ersten Film in Paris vorstellten, imitierten die Panoptikumsbetreiber diese bis ins kleinste Detail: Den Vorführraum trennte von den Zuschauern lediglich eine Kulisse, in die ein kleines Loch für den Projektionsapparat geschnitten war. Der unausgereifte Apparat projizierte ein so stark flimmerndes Bild, dass rasch die Augen schmerzten.

Trotzdem war die Nachfrage nach Filmvorführungen groß. Gabriel erkannte sie und eröffnete 1907 in der Dachauer Straße 16 eines der ersten Münchner Kinos. Er war auf den Effekt bedacht und engagierte zur dramatischen Untermalung der Stummfilme einen "Explicateur". Der spielte dem Publikum die Dialoge vor und heizte die Stimmung im Kinosaal mit wilden Ausrufen an.

Es war vor allem sein Verdienst, dass die Besucher sich so sehr erschraken, als die Lumière'sche Lokomotive auf der Leinwand direkt auf sie zuraste. In Carl Gabriels Lichtspielhaus wurden kurze Filme wie "Unfreiwilliger Jockey. Humoristisches Sportbild" oder "Die Tochter des Türmers. Hochdramatisch" endlos aneinander gereiht gezeigt. Der Besucher durfte so lange sitzen bleiben, bis er es auf den harten Holzbänken nicht mehr aushielt - nur sonntags war der Eintritt auf eine Stunde begrenzt.

Als Hans Büche 1937 das Kino übernahm, begann eine Ära der Schmachtstreifen. Filme wie Henry Kosters "Der Rebell ihrer Majestät" liefen wochenlang. Bis in den Siebzigern das Fernsehen sich verbreitete und immer weniger Besucher ins Kino kamen. Der Enkel Hans Walter Büche, mittlerweile selbst in den Fünfzigern, hat es gelernt, Aufwand und Nutzen abzustimmen.

Seit 1965 arbeitet er in dem Familienbetrieb mit, seit 1985 leitet er ihn. Büche ist sich sicher, dass eine Umorientierung auf erotische Filme die einzige Chance war, das Kino zu erhalten. Er erklärt: "Mit den normalen Filmen war kein Geschäft mehr zu machen. Aber in FKK-Filme sind die Leute gerannt wie verrückt."

Das älteste Kino der Welt

Über die Jahre hinweg wählten sein Vater und er immer explizitere Filme aus, denn von 1985 an konkurrierten sie mit dem Erotikprogramm der TV-Privatsender. Am Ende liefen in Carl Gabriels Lichtspielhaus nur noch Pornos. Ein USA-Urlaub 1993 brachte dann die Wende. Büches Augen leuchten, wenn er sich erinnert: "Dort sah ich 'Jurassic Park' und wusste: Das ist richtiges Kino. Das will ich auch vorführen."

Er modernisierte sein Kino, taufte es "Neues Gabriel Kino" und eröffnete mit dem Hollywoodfilm "Wolf - Das Tier im Mann". Anfangs kamen noch viele ehemalige Besucher an die Kasse und wollten wie üblich nur "eine Karte", ohne den Film zu nennen.

Stetiger Kampf

Erst der zweite Film machte dem Familienbetrieb Hoffnung. "Forrest Gump" war viele Wochen ausverkauft. Es dauerte fünf Jahre, bis sie wieder schwarze Zahlen schrieben. Als 2003 das Multiplexkino Mathäser eröffnete, blieben im Neuen Gabriel, wie in vielen Münchner Kinos, die Besucher aus. Die Familie testet seither im stetigen Kampf um ihr Publikum verschiedenste Genres. Zur Zeit haben sie mit "anspruchsvollem Mainstream" guten Erfolg, also Filmen wie "Die Simpsons" oder "Rush Hour".

Büches Tochter Alexandra Gmell arbeitet nun seit drei Jahren mit ihrem Vater. Letztes Jahr hatte sie die Idee mit den Bonuskarten. Nach zehn Besuchen ist der elfte Eintritt frei. Hans Walter Büche sammelt neugierig die vollen Karten und ist stolz darauf, das sich sein Stammpublikum langsam wieder vermehrt: "Ich denke, die kommen zurück, weil wir relativ günstige Eintrittspreise haben", und seine Tochter ergänzt: "Und weil man hier das Bier noch im Glas bekommt."

Wenige Gäste ahnen, dass das Gabriel in einem Jubiläumsjahr steckt - und die Besitzer legen auch keinen Wert darauf. Alexandra Gmell kommt ihrem pragmatischen Vater gleich: "Die Leute sollen gerne zu uns kommen, nicht weil wir 100 Jahre alt sind." So möchte sie nur mit einer kleinen Ausstellung im Foyer durch das vergangene Jahrhundert führen.

Wann sie stattfindet, steht noch nicht fest. Meist fehlt ihr die Zeit, sie vorzubereiten. Sie plaudert lieber vor Vorstellungsbeginn mit den Besuchern und verabschiedet sich nach der Abendvorführung freundlich mit "Gute Nacht", bevor sie die Tür hinter dem letzten zuschließt.

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