Süddeutsche Zeitung

Versorgung:Die Stadtwerke machten München erst lebenswert

  • Zwei Historiker haben "NetzWerke" vorgelegt, ein Buch über die Geschichte der Münchner Stadtwerke.
  • Die Arbeit erzählt nebenher auch die Sozial-, Wirtschafts- und Alltagsgeschichte der Stadt.
  • Beleuchtet wird auch die Rolle der Stadtwerke in der Zeit des Nationalsozialismus. Auch sie waren in Nazi-Verbrechen verstrickt.

Von Wolfgang Görl

Der aus Italien stammende Kriegsinternierte Egidio D. war von den Münchner Stadtwerken während des Zweiten Weltkriegs als Straßenbahnfahrer eingesetzt worden. Dort geriet der Zwangsarbeiter eines Tages in einen Streit mit dem Stationsmeister und einer deutschen Kollegin, was zur Folge hatte, dass er wegen "Dienstverweigerung" und "unkameradschaftlichen Verhaltens" der Rechtsabteilung der Stadtwerke gemeldet wurde.

Am 7. Dezember überstellte ihn diese der Gestapo mit der Bitte, Egidio D. "umgehend in Haft zu nehmen und geeignete staatspolizeiliche Maßnahmen gegen ihn zu ergreifen". Die Gestapo ließ sich nicht zweimal bitten. Bereits einen Tag später teile sie den städtischen Verkehrsbetrieben mit, dass der italienische Zwangsarbeiter auf unbestimmte Zeit in ein Konzentrationslager eingewiesen worden sei.

Ob Egidio S. das KZ überlebt hat, ist nicht bekannt. Zumindest in zwei Fällen lässt sich nachweisen, dass Zwangsarbeiter der Verkehrsbetriebe im KZ Dachau umgekommen sind. In welcher Weise die Stadtwerke in die Verbrechen der Nationalsozialisten verstrickt waren, ist in dem Buch "NetzWerke" der Historiker Johannes Bähr und Paul Erker nachzulesen. Dabei geht es in dem 500 Seiten umfassenden Werk beileibe nicht nur um die NS-Vergangenheit der Stadtwerke.

Bähr, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Frankfurter Goethe-Universität, und Erker, der an der Ludwig-Maximilians-Universität Wirtschafts- und Unternehmengeschichte lehrt, haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Geschichte der Stadtwerke von ihren Anfängen bis zur Gegenwart zu erzählen. Herausgekommen ist eine wissenschaftlich fundierte und ausgezeichnet recherchierte Arbeit, die noch viel mehr bietet als einen erhellenden Blick auf den Werdegang eines kommunalen Entsorgungsunternehmens. Wer das Buch liest, bekommt quasi nebenher auch tiefe Einblicke in die Sozial-, Wirtschafts- und Alltagsgeschichte der Stadt.

Was den Ausbau der Infrastruktur betrifft, hinkte das alte München lange Zeit hinter anderen deutschen und europäischen Städten hinterher. Als Nürnberg 1847 als erste bayerische Stadt eine Gasbeleuchtung erhielt, wurde die Errungenschaft mit hämischen Pressekommentaren Richtung München gefeiert, wo man die Kosten für die neumodische Beleuchtung noch scheute. Zudem galt München bis ins letzte Viertel des 19. Jahrhunderts als eine der schmutzigsten Städte Europas.

Die Stadtbäche glichen Kloaken, und wer in München Wasser trank, riskierte sein Leben. Immer wieder kam es zu Cholera- oder Typhus-Epidemien, was sich im In- und Ausland herumsprach. Es kam vor, dass Beamte auf Beförderungen verzichteten, damit sie nicht nach München versetzt werden; auch die Universität der Schmutzmetropole war unter Studenten alles andere als die erste Wahl.

Das aber änderte sich gegen Ende des Säkulums schlagartig: Der damalige Erste Bürgermeister Alois Erhardt, Stadtbaurat Arnold Zenetti und der Hygieniker Max Pettenkofer entwarfen ein Programm zur hygienischen Stadterneuerung. Und siehe da: Zur Jahrhundertwende verfügte München über das modernste Wasserversorgungs- und Kanalisationssystem Deutschlands. Das Trinkwasser kam aus dem rund 40 Kilometer entfernten Mangfall, wo die Stadtwerke noch heute etwa 80 Prozent des Münchner Wasserbedarfs abzapfen - nicht unbedingt zur Freude der dortigen Bewohner.

"Politische Gegner" konnten nicht im Dienst der Stadt bleiben

Etwa zur selben Zeit, im November 1899, wurde quasi die Keimzelle der heutigen Stadtwerke gelegt. Damals entstanden die beiden ersten städtischen Betriebe für die kommunale Versorgung, die Elektrizitätswerke und die Gasanstalt. Der Begriff Stadtwerke kam erst in der NS-Zeit auf. Am 1. April 1939 wurden die Elektrizitätswerke, die Gas- und Wasserwerke und die Verkehrsbetriebe zu den "Stadtwerken München" zusammengeschlossen. Gleiches geschah auf Anordnung der Reichsregierung in vielen anderen Städten Deutschlands.

Vor der nationalsozialistischen Machtübernahme hatten relativ wenige Mitarbeiter der kommunalen Betriebe das Parteibuch der NSDAP. Kaum war Hitler Reichskanzler, setzte eine Eintrittswelle ein. Dabei spielte nicht immer die politische Überzeugung die Hauptrolle, nicht wenige Münchner traten der NSDAP aus Sorge um ihren Arbeitsplatz bei. Johannes Bähr schildert als Beispiel den Fall eines Badeoberaufsehers, der ein gestandener Sozialdemokrat war. Im März 1933 legte ihm sein Vorgesetzter nahe, der NSDAP beizutreten, da er als "politischer Gegner" nicht im Dienst der Stadt bleiben könne. Der Bademeister folgte dem unmissverständlichen Wink, wurde aber dennoch entlassen. Erst nach diversen Gesuchen und einer schriftlichen Treuerklärung stellten ihn die Stadtwerke wieder ein.

Im Oktober 1941 gaben die Verkehrsbetriebe bekannt, dass "Juden das Benutzen der städtischen Verkehrsmittel (Straßenbahn und Omnibusse) mit sofortiger Wirksamkeit verboten" ist. Zynischerweise durften jüdische Zwangsarbeiter, die als Wagenwäscher eingesetzt wurden, weiterhin die Straßenbahn benutzen, damit sie pünktlich zu Arbeit kamen. Den Judenstern aber, den zu tragen sie verpflichtet waren, sollten sie während der Fahrt mit einer Aktentasche verdecken.

Johannes Bähr, Paul Erker: NetzWerke. Die Geschichte der Stadtwerke München. Piper-Verlag, 504 Seiten, 20 Euro.

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SZ vom 02.06.2017/bhi
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