Neue S-Bahnhaupttrasse:Die endlose Röhrengeschichte

Tunnel oder Ring? Seit mehr als 15 Jahren wird über die neue S-Bahnhaupttrasse diskutiert. Ein Streit droht nun, eines der großen Bauprojekte zu Platzen zum bringen.

Dominik Hutter

Gerade hatte es bei der S-Bahn wieder Probleme gegeben. Zwei Züge waren wegen technischer Defekte im Tunnel liegengeblieben, dazu muckte ein Stellwerk, und die Fahrgäste standen sich die Beine in den Bauch. Im Januar 1993 war das, und für Albert Spiegl, den damaligen München-Chef der Verkehrsgewerkschaft GDBA, stand fest, dass es nur einen Ausweg aus dem Dilemma geben kann: den Bau einer zweiten Stammstrecke. "Alles andere ist Flickwerk", erklärte Spiegl im SZ-Interview.

Neue S-Bahnhaupttrasse: Varianten der zweiten S-Bahn-Stammstrecke: Klicken Sie auf das Bild, um die ganze Grafik zu sehen.

Varianten der zweiten S-Bahn-Stammstrecke: Klicken Sie auf das Bild, um die ganze Grafik zu sehen.

(Foto: SZ-Grafik)

Sechzehneinhalb Jahre später hat sich vieles geändert: Kohl ist nicht mehr Kanzler, die Bahn heißt nicht mehr Bundesbahn, und auf Münchner S-Bahn-Schienen ist ein komplett erneuerter Fuhrpark unterwegs. Nur das mit der Stammstrecke haben Politik und Verwaltung immer noch nicht hingekriegt. Und so quält sich weiterhin Zug hinter Zug durch das überlastete Nadelöhr - Stockungen, Verspätungen, Umleitungen und Ausfälle inklusive.

Wird das eigentlich irgendwann noch was mit dem Schienen-Bypass, den der frühere Verkehrsminister Otto Wiesheu spätestens 2010 einweihen wollte? Viele Beobachter befürchten Schlimmstes - denn vermutlich war die Gefahr nie größer, dass das Projekt so lange zerredet wird, bis es dem Transrapid auf die Halde gescheiterter Großplanungen folgt.

Unnützer Weg nach Norden

So ist in der einst tunnelfreundlichen und nun südringorientierten CSU-Landtagsfraktion längst nicht mehr jeder davon überzeugt, dass München eine zweite S-Bahn-Querung benötigt. Eine bislang nur leise vorgetragene These lautet: Vermutlich reicht das Geld nur für ein einziges Münchner Großprojekt, und da bauen wir doch lieber den Nordtunnel, den auch Regionalzüge, der ICE und ein Flughafen-Express nutzen könnten.

Das klingt zunächst plausibel, hat aber den Haken, dass dieses Projekt mit geschätzten 2,45 Milliarden Euro in die Finanzdimensionen des Transrapids vorstößt. Die Planungen sind zudem ausgesprochen kompliziert - unter anderem wäre ein Umbau des Hauptbahnhofs erforderlich - und befinden sich in einem sehr frühen Stadium.

Am schlimmsten allerdings ist es, dass der Nordtunnel völlig ungeeignet ist, die Münchner S-Bahn-Problematik zu lösen - was übrigens von dessen Erfindern aus dem Planungsbüro Vieregg-Rößler auch nie behauptet wurde. Denn der Nordtunnel verliefe, wie der Name schon sagt, vom Stadtzentrum aus gen Norden. Bei der zweiten S-Bahn-Stammstrecke aber handelt es sich zwingend um eine Ost-West-Verbindung.

Eine weitere Konkurrenztheorie hat kürzlich der Verkehrsplaner Jürgen Rauch bei einem Treffen der Südring-Fraktion eingebracht. Schafft man es, die Haltezeiten der Züge an den Bahnsteigen zu verkürzen, könnten statt der heute 30 bis zu 40 Züge pro Stunde und Richtung die Röhre passieren. Theoretisch. Denn das klappt nur, wenn die Fahrgäste mitspielen und als Paradebeispiele menschlicher Effizienz immer genau zu jenen Abteilen streben, in denen noch genügend Platz ist. Das beschleunigt insgesamt das Ein- und Aussteigen.

Dazu müsste man an Leuchttafeln den Befüllungsgrad der Waggons anzeigen, die Fahrgäste mit Pfeilen an die richtige Stelle lotsen oder die Türen überfüllter Abteile sperren. 40 Züge je Stunde wären zwar ein äußerst ehrgeiziges (viele Bahnplaner meinen: unmögliches) Ziel - aber eines, das unheimlich viel Geld sparen könnte: Denn diese Kapazität würde ausreichen, sämtliche S-Bahn-Linien im Zehn-Minuten-Takt durch die alte Röhre zu schicken. Eine zweite Stammstrecke wäre dann ganz entbehrlich.

Dies ist freilich nicht der Schluss, den die Südring-Befürworter um den grünen Landtagsabgeordneten Martin Runge aus Rauchs Vortrag ziehen wollen. Der Ausbau der Gleistrasse zwischen Haupt- und Ostbahnhof sei in jedem Fall erforderlich, betonen sie. Schließlich müsse die S-Bahn zukunftstauglich sein, die Zahl der Fahrgäste soll ja weiter steigen. Wer ohnehin schon an der Notwendigkeit einer zweiten Stammstrecke zweifelt, dürfte jedoch Rauchs These dankend als Munition verwenden.

Fortsetzung des Anti-Tunnel-Kampfes

Bisher hat die wiederaufgeflammte Tunnel-Südring-Debatte noch keine Verzögerungen ausgelöst - die vom Freistaat in Auftrag gegebene Vergleichsstudie läuft parallel zum Genehmigungsverfahren für die zweite Röhre. Interessant wird es aber, wenn im Oktober das Ergebnis der Untersuchung vorliegt: Akzeptiert dann auch die unterlegene Seite das Scheitern "ihrer" Variante? Falls der Südring das Rennen macht, sind vermutlich nur kleinere Querelen zu erwarten. Denn für den einstigen Königsweg Tunnel machen sich derzeit in der Öffentlichkeit nur noch wenige stark - das Bayerische Verkehrsministerium zählt dazu, der MVV und die SPD-Stadtratsfraktion.

Als vor einigen Wochen im Wirtschaftsausschuss des Landtags CSU und Grüne in seltener Einmütigkeit die Tunnelplanung zerlegten, blieb die SPD, die offiziell anderer Meinung ist, stumm; aus Gleichgültigkeit, Ratlosigkeit oder heimlicher Sympathie für die Argumente der Gegenseite? Die Röhre, die aus Sicht des Ministeriums wie des städtischen Planungsreferats die Vorzugslösung darstellt, hat also im maßgeblichen Entscheidungsgremium für S-Bahn-Fragen keine aktiven Fürsprecher mehr.

Was aber wird geschehen, falls die Experten den Tunnel zum Sieger erklären? Werden dann tatsächlich die Südringfreunde einräumen: Okay, wir haben uns getäuscht? Wohl kaum, mutmaßen selbst Wohlwollende. Erste Zweifel an der Objektivität der Studie wurden bereits angemeldet, das Hintertürchen zur Fortsetzung des Anti-Tunnel-Kampfes steht also offen.

Ohnehin haben die Aktivisten, die schon viel Mühe in ihr Anliegen investiert haben, das bereits angekündigte Bürgerbegehren nur vorläufig ausgesetzt - so lange alles nach Wunsch läuft. Entscheidet sich die Politik aber nochmals für den Tunnel (nochmals, weil ja schon 2001 eine Studie mit derselben Fragestellung die Röhre als überlegene Variante einstufte), dürfte das Unterschriftensammeln wieder beginnen. Ein erfolgreicher Bürgerentscheid würde die Stadt München dazu zwingen, alle rechtlichen Möglichkeiten gegen den Tunnel auszuschöpfen. Das kann sich dann hinziehen.

Geduld kennt Grenzen

Am kompliziertesten wird es wohl, wenn die Studie zu einem differenzierten Ergebnis kommt. Etwa: Der Südring bringt nur halb so viel wie der Tunnel, kostet aber auch nur die Hälfte. Wie die dann ausbrechende Politdebatte verläuft, ist aus heutiger Sicht nicht vorauszusagen. Allerdings hat Eberhard Rotter, der verkehrspolitische Sprecher der CSU-Landtagsfraktion, bereits klargemacht, dass angesichts der Endlosdiskussion die Geduld der Abgeordneten Grenzen hat. Sollte der Eindruck entstehen, so Rotter, dass München nicht hinter dem Milliardenprojekt steht, werde man das Geld in andere bayerische Verkehrsvorhaben investieren. Noch ein Fallstrick also für die zweite Stammstrecke.

Der Hauptgrund für die Verzögerungen der letzten Jahre sind übrigens die vielen Umplanungen: Erst wurde der Tunnel tiefergelegt, danach sparten die Planer alle Stationen bis auf jene an Hauptbahnhof und Marienplatz ein. Es folgten bauliche Änderungen am Marienplatz. Weil die Kosten-Nutzen-Rechnung nicht aufging, musste schließlich die Trasse in Haidhausen zweimal umgeplant werden. Ein privater Bauherr wäre vermutlich längst pleite.

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