Neue Regelung im Englischen Garten:An der Leine

Deutschlands schönster Park wird mit Verboten überzogen: Nie mehr surfen auf dem Eisbach und Hunde dürfen auch nicht mehr ohne Leine rumlaufen. Ein Lehrstück über Unfreiheit, das nicht nur in München spielt.

Hilmar Klute

Am frühen Morgen, wenn die Gräser so feucht sind, dass nur derjenige punkten kann, der in Gummistiefeln unterwegs ist, liegen auf einer großen Wiese im Norden des Englischen Gartens die Schafe. Sie sehen von weitem aus wie große Findlinge aus Sandstein, die einem vertrottelten Riesen aus der Tasche gefallen sind - stumm und regungslos dösen die Schafe auf ihren grünen feuchten Betten.

Englischer Garten München

Spaziergängerinnen mit ihren Hunden im Englischen Garten. Im Hintergrund ist der Monopterors zu sehen.

(Foto: Foto: Robert Haas)

Der Hund, den ich freundlicherweise auf diesen für meine Begriffe noch nächtlichen Promenaden begleiten darf, sieht die Schafe nicht; er sieht auch die Krähen nicht, die aus dem hohen Gras auffliegen. Der Hund sieht zwar die Jogger, findet sie aber eher nicht weiter interessant. Er sieht die Radfahrer, die er vielleicht ein bisschen fürchtet, und er sieht andere Hunde, deren Sympathiewert er mit der Nase ermittelt.

Ansonsten sieht er vor allem kleine eklige Dinge, die er aufleckt, Stöcke, die er zerkaut, Wasserläufe, die er vorsichtig betritt, Feldwiesen, durch die er springt - kurz: der Hund geht artgerecht in seinem Biotop auf, und die Beiträge, die er an das Biotop abgibt, klaube wiederum ich mit einer schwarzen Plastiktüte auf.

Hunde führten mindestens zu einem Todesfall pro Jahr

Ist es nicht großartig, wie der Hund und ich unsere Bedürfnisse, an der halbdomestizierten Wildnis teilzuhaben, mit den Anforderungen der spätmodernen Zivilisationsgesellschaft verknüpfen? Wenn ich den grünen Deckel des schmiedeeisernen Abfalleimers neben der Parkbank öffne, stoße ich auf einen Schatz von, sagen wir, zehn Plastiktütchen mit der Aufschrift Bell 00 - alle sind ordentlich zusammengebunden von den Hundebesitzern im Englischen Garten. Diese vielen kleinen schwarzen Beutel sind Manifestationen skrupulöser Hundeeigner. Jeder Beutel signalisiert: "Sieh' her, liebe Parkverwaltung, wir lassen nichts liegen, dafür lasst ihr bitte unsere Hunde freilaufen!"

Wie es aussieht, werden derartige Signale in ein paar Wochen nichts mehr wert sein, weil die Verwaltung des Englischen Gartens einen generellen Leinenzwang für Hunde durchsetzen möchte. Thomas Köster - das ist der Parkchef - sagt, Hunde führten zu mindestens einem Todesfall pro Jahr, weil sie Radfahrer zum Sturz brächten und Jogger zu Boden rissen. Weil zudem die Radfahrer ihrerseits den Joggern in die Kniekehle fahren, soll auch auf diese ein wachsames Ordnungsauge geworfen werden.

Diejenigen schließlich, die im Eisbach baden, auf der Welle surfen oder Frisbeescheiben werfen und Bongo spielen, auch sie können sich warm anziehen, das ist keine Frage mehr, denn die Verordnungen, welche auf dem Papier ja schon lange bestehen, sie werden von August an mit Bußgeldern verfolgt werden - der Bayerische Landtag hat eigens dazu beschlossen, das Landesstraf- und Verordnungsgesetz zu ändern.

Biotop und Soziotop

Die Frage lautet vielmehr, was der Mensch sich noch aus der Natur holen und wie er sich darin bewegen darf, ohne eine Ordnungswidrigkeit zu begehen - und dies eben ist eine Frage, die weit über unseren geliebten Englischen Garten hinausreicht in ein Land, im dem von Bürokratieabbau schwadroniert wird, das sich aber immer weiter neue Unfreiheiten auferlegt, um die Dinge irgendwie in den Griff zu kriegen, nicht wahr? Soll zum Beispiel ein Biotop wie der Englische Garten auch weiterhin ein Soziotop bleiben, also ein Ort, an dem alles, was eine Gesellschaft seit Jahrhunderten ausmacht, in meist größter Friedfertigkeit zusammenkommt? Darf man hier Radfahrer sein, Hundehalter, Skater, Schwimmer, Surfer und Jogger? Darf man sich hier vollständig entkleiden, eine Tüte bauen und im Gras liegen und Schafkopfen?

An der Leine

Oder soll ein Großteil dieser Vergnügungen künftig unter Strafe gestellt werden, wie es der Parkverwalter Thomas Köster will. Der Mann fürchtet, dass der Englische Garten den modernen Freizeitbedürfnissen der Menschen nicht mehr gewachsen ist. Immerhin gebe es Klagen aufgeregter Bürger über freche Hunde, Freizeitsportler und Bacchanten, die ihre Flaschen einfach liegen lassen.

Englischer Garten München

Hund mit Frauchen im Englischen Garten

(Foto: Foto: Robert Haas)

Natürlich ist sogar eine paradiesische Stadt wie München voll mit Männern und Frauen, die nicht begreifen, dass man sich in einem Soziotop an Regeln halten muss. Über sie möge, geht's nach uns, dergestalt die Hölle reinbrechen, dass sie für jeden liegengebliebenen Hundehaufen dreistellige Summen zahlen und für jede leere Bierpulle einen Monat Sozialdienst leisten müssen. Sind wir absolut dafür. Aber die anderen sollen doch bitte ihren Frieden haben. Bei all den morgendlichen, mittäglichen, mitunter abendlichen Spaziergängen mit oder ohne Hund im Englischen Garten ist in all den Jahren weder mir noch Kollegen ein Hund mit Tötungsabsicht an die Kehle oder an vergleichsweise empfindliche Körperstellen gesprungen.

Hunde gehören zur Zivilisationskultur und nicht an die Leine der Kleinmütigkeit. Was den Hundedreck anbelangt, hat die Kynologie, also die Wissenschaft vom Hund, übrigens etwas Erstaunliches herausgefunden: auch angeleinte Hunde müssen groß! Und jene Hunde, die kürzlich die Schafe gerissen haben? Ihnen soll das Maul zugebunden werden für lange Zeit, und in der Hundeschule sollen sie hart bestraft werden. Aber diese Hunde sind: Ausnahmen.

Wirklich aggressive Hunde tauchen selten auf

Gewaltig hingegen ist die Zahl derer, für die das Leben ein Elend und die Vergnügungen anderer den grellen Kontrast dazu darstellen.Das Aussprechen von Verboten und das strikte Ahnden von Regelverstößen sind Zuckerbrot für jene, die vieles in unserer Gesellschaft zu lasch und libertär finden und am liebsten den ganzen Tag lang die Peitsche schwingen - Bruttoregistertonnen von Internet-Blogs sind voll mit hausmeisterhaftem Geschimpfe gegen Hundebesitzer, Fahrradrowdys, Kinder...

Die Gruppen der Gewährsleute für die nun so strikt ausgesprochenen Verbote sind soziologisch allerdings unscharf konturiert: Mütter mit Kindern trauten sich nicht in den Park wegen der Hunde, heißt es, alte Leute fürchteten sich vor den Radfahrgewohnheiten Jugendlicher. Wer aber, gleich zu welcher Tageszeit, durch diesen Park spaziert, findet die Interessengruppen ziemlich durchmischt. Zum Beispiel sind da jene Mütter, die parallel zum Kinderwagen einen großen Hund spazierenführen sowie ältere Leute, welche in zweckmäßiger Tour-de France-Kleidung in, sagen wir, selbstbewusstem Tempo durch die Gegend fahren.

Selten genug, wie gesagt, tauchen tatsächlich aggressive Hunde auf, deren Besitzer dann allerdings von einer Phalanx aus gut erzogenen Hundeeignern des Parks verwiesen werden und nicht mehr wiederkommen. Immer wieder strecken sich gleichgültigen Herrchen hilfreiche Hände mit Kotbeuteln entgegen, und wie oft kann man beobachten, dass tempoorientierte Radfahrer anhalten müssen, weil ein Fußgänger sie zur Mäßigung mahnt.

Chihuahuas im Central Park müssen auch an die Leine

Verbotsjongleure wie Thomas Köster wollen nicht wahrhaben, dass die Zivilgesellschaft, sogar auch wenn sie Freizeitkleidung trägt, sehr wohl in der Lage ist, ihr Soziotop selbst zu regulieren. Die Friedfertigkeit, Achtsamkeit und das Verantwortungsbewusstsein der Bürger - es ist groß genug, um ihnen mit Geboten statt Verboten zu begegnen.

An der Leine

Englischer Garten München

Das Kiosk 'Mini Hofbräuhaus' im nördlichen Englischen Garten ist ein beliebter Hundetreff.

(Foto: Foto: Stephan Rumpf)

Natürlich haben auch diejenigen recht, die sagen: Was wollt ihr denn, die großen städtischen Parks dieser Welt sind alle mit Verboten belegt. In New York braucht ein Chihuahua nur eine halbe Minute ohne Leine durch den Central Park zu stolpern, schon muss sein Besitzer 50 Dollar zahlen. Und Bürgermeister Michael Bloomberg wollte schon vor zwei Jahren ein generelles Bellverbot für Hunde im öffentlichen Raum einführen, eine Maßnahme, die vermutlich so erfolgversprechend ist wie der Versuch, Wasser staubig zu machen.

Und hier, bei uns? In Berlin war es jahrelang verboten, durch die Parkanlagen von Babelsberg, Schloss Charlottenburg und Sanssouci zu radeln, und wer es trotzdem machte, wurde von einem Parkwächter angehalten und bekam ein Knöllchen an die Stirn gepappt. Die Berliner Schlösserstiftung hat das Wachpersonal derartig geschult, dass diese Männer und Frauen einerseits die Verbote lückenlos vortragen und kompromisslos ahnden, zum anderen aber auch Interessantes aus der Preußischen Geschichte mitteilen konnten.

Ob sie auch damit rausrückten, dass der Preußenkönig Friedrich II. den Großteil seines trostlosen Alters mit seinen krummen Windhunden verbrachte, welche nicht nur im Park ihre blitzflinken Runden drehten, sondern auch an der Tafel speisen durften und von der Dienerschaft grundsätzlich auf Französisch anzureden waren?

Nur im Park konnte man frey sein

Wenn man es genau nimmt, war es auch in München ein Monarch, welcher den Bürgern das elende Laisser-faire angewöhnt hat, mit dem die Verwaltung jetzt solche Scherereien hat. Der meist miesgelaunte Kurfürst und Kartenspieler Karl Theodor ließ die Tore zum Hofgarten öffnen und dann die ganze bürgerliche Bagage samt Frau, Kind und Hund hineinlatschen, so fing das an. "Alle Klassen von Menschen dürfen hereintreten und so ganz ungehindert freye Luft athmen", schrieb der Jurist und Literat Joseph Sebastian Rittershausen rückblickend im Jahr 1795 leicht angewidert.

Damals war München ein ungemütlicher Polizeistaat, weil der Kurfürst den kurz zuvor in Ingolstadt gegründeten Geheimorden der Illuminaten so fürchtete wie der Gartenverwalter den Dobermann. Deshalb konnte man nur im Park frey sein. Man muss zudem bedenken, dass zu jener Zeit in Frankreich nach den Köpfen des Adels mittlerweile auch die Köpfe der Revolutionäre in die Bastkörbe gekullert waren und alle irgendwie die Nase voll hatten von rabiater Aufklärung, Tribunalen und Guillotinen.

Darum wuchs auch in der Residenzstadt München der Wunsch, alle Stände der Gesellschaft in ein harmonisches Miteinander zu stellen, und wie kann man das besser als in einer traumhaft schönen Gartenanlage, die von einem der besten Landschaftsgärtner der damaligen Zeit ersonnen war, von Friedrich Ludwig von Sckell nämlich.

Heute gibt es keine Kurfürsten und Stände mehr, ob es noch Illuminaten gibt, weiß man nicht so genau. Aber es gibt auf jeden Fall ein Verwaltungswesen, das den Bürgern ihre Eigenverantwortung abspricht, nicht willens ist, einzelne Sünder zu bestrafen, sondern gleich alle unter Generalverdacht stellt, was ja auch einfacher ist, weniger Personal erfordert und gutes Geld in die Kassen fließen lässt. Es gibt einen eigentümlichen Sauberkeits- und Übersichtlichkeitsfimmel und eine Haltung zur halbdomestizierten Parknatur, die etwas Erbsenprinzessinnenhaftes hat.

Park einzäunen oder Bürger an die Leine

Ist es denn ökologisch wirklich unvertretbar, dass man im Sommer ein bisschen durchs hochgewachsene Feldgras latscht und sich sogar mit einem Buch mitten hineinlegt? Schreit die Butterblume auf vor Schmerz, wenn ein Hund sich auf ihr wälzt? Und - zugegeben ist das jetzt ein bisschen kühn - aber: Muss man sich gleich in die Hose machen, wenn mal ein Hund an einem hochspringt?

An der Leine

Der Schweizer Urbanismuskritiker Lucius Burckhardt - der Mann hat übrigens die schöne Wissenschaft von der Promenadologie erfunden - sagt, "dass die Unordnung der unkultivierten Natur eine ordentlichere Ordnung ist als die unserer viereckigen Felder und Äcker". Und Burckhardt, der auch ein unverbesserlicher Zivilisationsutopist war, hat immer gehofft, dass "die Ordnung der Unordnung sichtbar werden wird in einer künftigen besseren Gesellschaft".

Es gibt sehr alte und damit schutzbedürftige Bäume im Englischen Garten, um die ein Zaun gezogen ist samt einer Erklärungstafel mit einem sentimentalen Text, welcher auf die Gebrechlichkeit des Baums verweist, und dass er zu große Nähe nicht mehr erträgt. Satirische Gemüter würden sich hinreißen lassen, dass die Verwaltung gut daran täte, das Prinzip Seniorenbaum auf den gesamten Park anzuwenden und diesen komplett einzuzäunen. Und Jonathan Swift, der bösartige Ire, würde heute einen utopischen Roman schreiben, in welchem Parkwächter die Bürger an einer kurzen Leine durch die Gegend führen.

Lasst uns die Freiheit, die Dinge weiterhin selbst zu regeln

Aber wie es aussieht, lassen sich die Bürger nicht so einfach an die Leine nehmen. In München nicht, und auch nicht in Berlin, wo sie so lange gezetert und Unterschriften gesammelt haben, bis die Stiftung Preußische Schlösser und Gärten klein beigegeben und vorerst bis Ende 2009 die Wege der Parks für Radfahrer freigegeben hat.

Ob aber der Englische Garten wieder zu seiner alten Lässigkeit zurückfinden wird, weiß keiner außer den Nackten. Lustigerweise müssen sich die Ausgezogenen - eine geschmacklich umstrittene Kuriosität der Gartenanlage, die sogar schon zu berühmten Leitartikeln in der Süddeutschen Zeitung führte - keine Sorgen machen, weil sie nach Maßgabe des Parkverwalters "unter Naturschutz" stehen. Rein historisch gesehen hat der Mann natürlich recht, denn Nackte gibt es schon länger auf der Welt als Hunde, Radler und Surfer. Es ist gut möglich, dass Thomas Köster an jenem Tag die Flinte ins Korn wirft, da ihm am lichten Vormittag ein nackter, Frisbee spielender Radfahrer mit Surfbrett auf dem Gepäckträger entgegenrast, begleitet von zwei lieben fetten Dogo Argentinos.

Bis dahin geben wir die Hoffnung nicht auf. Und rufen dem Herrn Köster sowie den vielen Kösters dieser Republik zu: Lasst ab - und lasst uns, die wir keinesfalls mit dem Messer aufeinander zugehen, sondern manchmal nur mit einem Kotbeutelchen, lasst uns bitte unsere sehr hart erkämpfte Freiheit, die Dinge weiterhin selbst zu regeln!

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