Süddeutsche Zeitung

Neue Heimat:Was die Menschen seit 1945 erreicht haben

Unser Autor aus Nigeria hat die KZ-Gedenkstätte in Dachau besucht. Und macht sich Gedanken über Gedenken und Aufarbeitung - die fällt in seiner Heimat noch schwer.

Kolumne von Olaleye Akintola

Es sieht ein bisschen aus wie ein stillgelegtes Fabrikgelände. In der kommerziellen Nabe Dachaus, nordwestlich von München. Mit diesem abscheulichen Satz am Eisentor. Dass Arbeit frei mache. Im Konzentrationslager ging es nie wirklich um Produktion, es war ein Ort der Vernichtung, ein Schandfleck der Geschichte. Doch ich bin nicht hierhergekommen, um schmerzvolle Emotionen zu erzeugen. Eher um zu würdigen, was die Menschen hier seit der Befreiung des Dachauer Lagers erreicht haben.

Die Baracken sind nachgebaut, trotzdem sieht man vielen Menschen hier die ehrliche Betroffenheit an. Ein Mann ist mit seinem kleinen Sohn hier, sie stehen vor einem Schwarz-Weiß-Foto, auf dem ausgemergelte Häftlinge des KZs zu sehen sind. "Der ist ja so alt wie ich", sagt der Junge. Wahrscheinlich wird er dieses Erlebnis so schnell nicht vergessen. Darum geht es hier. Weil es den meisten Menschen in der Region um München so gut geht, dass leicht in Vergessenheit geraten mag, was sich im Dachauer KZ bis zum Jahr 1945 zugetragen hat.

Der Monat Oktober hat historische Bedeutung - in Deutschland wie in Nigeria. Mein Geburtsland ist gerade 58 Jahre alt geworden, am 1. Oktober 1960 gewann es seine Unabhängigkeit zurück. Zumindest offiziell. Doch die Zeit der Sklaverei und die Auswirkungen des Kolonialismus lassen Nigeria noch immer dastehen wie einen Entmündigten: ein unstabiles Stromnetz, viele Haushalte ohne fließendes Wasser, eine enorm hohe Arbeitslosenquote. Nigeria ist auf dem Papier unabhängig, jedoch nach wie vor ein von westlicher Hegemonie geprägtes Land. Und die Aufarbeitung von all dem? Es ist schwer, Dinge aufzuarbeiten, wenn man noch mittendrin steckt.

Menschen, die sprechen, als habe es das KZ in Dachau nicht gegeben

Viel Wasser ist unter Nigerias Brücken durchgeflossen, auf der Suche nach vollkommener Freiheit - ein Kampf, der wahrscheinlich ewig fortdauern wird. Bayern ist weiter, hat sich zu einer internationalen Wirtschaftsmacht entwickelt. Der Freistaat hat Tausende Flüchtlinge aus aller Welt aufgenommen. Menschen wie mich, die sich nun frei bewegen können. Das hat geholfen, Reste vom Image des alten Nazi-Deutschlands verschwinden zu lassen, das bekomme ich mit, wenn ich mit Daheimgebliebenen spreche.

Nur hängt jetzt eine neue Bedrohung von rechts wie Gewitterwolken über dem Freistaat Bayern. Menschen, die sprechen, als habe es das KZ in Dachau nicht gegeben. Der erschrockene Bub vor dem Schwarz-Weiß-Foto wird solche Sätze wohl nie von sich geben.

Übersetzung aus dem Englischen: koei

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SZ vom 05.10.2018/smb
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