Architektur:Neuperlach, die titanische "Stadt der Zukunft"

In München ist eine fulminante Ausstellung über die Nachkriegsgeschichte der "Neuen Heimat" zu sehen. Was bleibt von der sozialdemokratischen Utopie eines anderen Wohnens?

Von Gerhard Matzig

Der Plan ist auch in einer an Verrücktheiten reichen Weltgeschichte des Wohnungsbaus einzigartig. Im Osten der vom Krieg gezeichneten und von Wohnungsnot bedrängten Stadt München sollte in den Sechzigerjahren eine monumentale Großwohnsiedlung für zunächst 80 000 Menschen quasi aus dem Nichts entstehen. Auf eintausend Hektar Grund. Aus einem Guss. Und zwar innerhalb von nur wenigen Jahren.

Diese titanische "Stadt der Zukunft", Neuperlach genannt, war die größte realisierte Städtebaumaßnahme der Bundesrepublik. Entsprechend ambitioniert war der Wettbewerb, der im Auftrag der "Neuen Heimat" einen Entwurf für das Zentrum hervorbringen sollte. Man war gespannt, welcher Großmeister der Stadtplanung als Sieger der internationalen Konkurrenz hervorgehen würde.

Von dieser Sitzung existiert ein Film, der ab Donnerstag in der fulminanten, anregend denkwürdigen und auch mit eindringlicher Fotokunst (von Herlinde Koelbl bis Ulrike Myrzik und Manfred Jarisch) bestückten Ausstellung "Die Neue Heimat - eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten" zu sehen ist. Das Architekturmuseum der TU München präsentiert in der Pinakothek der Moderne erstmals die staunenswert irrlichternde, aber klug mit Modellen und Planmaterial aufbereitete und konzentriert erzählte Geschichte einer Institution, die Anfang des 20. Jahrhunderts so hoffnungsvoll als Fanal eines neuen Denkens und Bauens begann - und nach bald einer halben Million gebauter Wohnungen so skandalumtost als finanzmafiöses und stadtplanerisches Debakel endete. Am Ende betrug der Preis für die Neue Heimat eine symbolische Mark, in den Büchern standen Verbindlichkeiten von 16 Milliarden Mark. Was blieb? Jede Menge Beton.

Inmitten dieser Geschichte ist der Film von der Münchner Jurysitzung, in der nach fünftägigen Beratungen endlich der Gewinner des zentralen Neuperlach-Entwurfs in der bekannten (von Egon Hartmann stammenden) Gesamtstruktur verkündet werden sollte, nur eine Marginalie. Und doch steckt das große Drama um die Neue Heimat schon in dieser Episode. Es ist eine Geschichte von Aufstieg und Fall, vom Traum und vom Erwachen daraus. Und von einem Kampf, der nicht zu gewinnen war. Das ist die Geschichte von Bernt Lauters Kampf.

Es sind also alle erwartungsfroh versammelt Ende der Sechzigerjahre, die Jury, der junge Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel und die Presse. Ein Umschlag wird geöffnet. Neugier füllt den Raum. Dann bricht eine Stimme das Schweigen, sie verkündet den Sieger: "Bernt Lauter, Diplom-Ingenieur aus Berlin". Schweigen. Bald wird daraus ratloses Schweigen, dann Gemurmel. Fragende Gesichter. "Wer ist das denn?" - Die Antwort: "unbekannt". Vogel rettet die Situation: "Den wird man ja nun schon bald kennen." Ja - und nein.

Es war die Zeit der Möglichkeiten. Und des Experimentierens

Denn Bernt Lauter, der sich als junger Mann und bis dahin unbekannter Architekt mit relativ geringer Städtebau-Erfahrung eine überzeugend zeichenhafte Stadtkrone für Neuperlach ausgedacht hatte, die neue Mitte, einen "Wohnring" mit etwa 450 Meter Durchmesser, der einen einzigartigen Grünraum umschließt, dazu ein zentrales Fußwegekreuz, die Raumfigur der "Spange" und kulturelle Einrichtungen, Lauter ist heute fast nur noch Städtebau-Experten ein Begriff.

Ja, stimmt, man lernte ihn damals wie von Vogel vorhergesagt kennen. Es war natürlich eine Sensation, dass ein so junger Mensch dem größten Wohnungsbauvorhaben der Nachkriegsgeschichte sozusagen die Krone aufsetzen sollte. Es war die Zeit der Möglichkeiten. Und des Experimentierens. Bald danach wurde der Sieger auch schon wieder vergessen. Und verdrängt vom Planungstisch. Ein Grund mehr, ihn jetzt - ein halbes Jahrhundert später - zu besuchen. Passenderweise wohnt er in Altperlach. Mit Blick auf sein Werk.

Das ist übrigens selten: dass sich Architekten auch wohnlich mit ihrem eigenen Werk auseinandersetzen. Das würde man sich öfter wünschen, denn es kann erkenntnisstiftend sein.

Die "Neu"-Gier der Nachkriegszeit

Lauter lebt schon lange direkt neben seinem eigenen Entwurf. Er spaziert fast täglich hindurch. Nicht weit entfernt vom Hachinger Bach, der für den aus Stade an der Elbe stammenden Lauter eher die Schwundstufe eines Gewässers markiert. Das passt aber, sagt er, zu seiner Karriere. Groß gestartet, klein angekommen. Lauter könnte heute eine tragische Figur sein. Ist er aber nicht, er wirkt, als ruhe er in sich. Ein gelassener Mensch. Der dem Leben nicht böse ist. Der Neuen Heimat auch nicht, obwohl er daran gescheitert ist.

Und mit ihm sein Entwurf, von dem das Wesentliche aus Renditegründen nicht realisiert wurde. Wenn man Neuperlach heute als eher unwirtlich wirkende, räumlich befremdliche, kaum urban wirksame Städtebau-Enttäuschung begreift (Lauter sieht das anders), so hat das viel mit der Realisierung und "Managern" (Lauter) zu tun. Mit dem Einsparen von Läden und Geschäften, von kulturellen Einrichtungen und einem Marktplatz, aus dem letztlich nur eine Mall wurde. Lauter sagt dazu "Bunker".

Bernt Lauter ist, das merkt man schnell im Gespräch, so ziemlich das Gegenteil seines Nachnamens. Er ist ein stiller Mensch, der immer stiller wird, je mehr man von ihm erfahren möchte. Aber er will, dass man seinen Entwurf versteht. Also geht er mit dem Reporter einmal durch die Hauslandschaft im Zentrum Neuperlachs, die es nicht gäbe, wenn es Lauter nicht gäbe. Der Architekturkritiker Peter M. Bode hat über Lauters Wohnring einmal geschrieben, man könne den Ring vermutlich auch vom Mars aus sehen. Vermutlich war das kein Lob. Lauter lächelt. Hält auf eine Brücke zu. Dort bleibt er stehen. Fragt: "Was sehen Sie?" - "Hm. Bäume? Und Häuser dahinter."

"Richtig. Alles ist eingewachsen. Bald ist alles wieder grün. Deshalb verstehe ich nicht, warum jetzt wieder die immer gleichen, trostlosen Betonburgbilder gezeigt werden, die vor einem halben Jahrhundert gemacht wurden. Bilder ohne Bäume und ohne Landschaft." Das ärgert ihn. Nicht, dass er deshalb lauter werden würde. Aber: "Das ist nicht die Realität."

In der Ausstellung ist das Bild natürlich auch prominent vertreten. Im lesenswerten Katalog findet es sich ebenfalls - auf Seite 181. Zu sehen sind drei kleine Kinder. Ein Junge, eher ein Bub, trägt die typische Lederhose. Man marschiert auf die heranbrandenden Wohnbauten zu. Kein Baum, nirgends. Es ist ein suggestives Bild. Das vom nachkriegsmodernen Traum des Wohnens erzählt. Von neuen Städten, neuen Räumen und einem neuen Leben darin.

Und vielleicht ist das auch die Antwort auf die Frage von Thomas Sieverts. Die "Neu"-Gier der Nachkriegszeit, das Heraustreten aus dem schweren Dunkel ins Helle, Lichte, Leichte. Sieverts, der berühmte Stadtplaner, ist ebenfalls in einem der erhellenden Ausstellungsfilme zu hören. Er rätselt: "Warum haben wir alle damals das 19. Jahrhundert so gehasst? Ich verstehe es selbst nicht. Aber so war es." Moderner Städtebau wollte anders sein. Der Block war der Feind, die Zeile der Freund. Das Enge war zu überwinden, das Weite zu erringen.

Die Schau zeigt ihre Historie als Aufstieg und Fall der Neuen Heimat

Die Ausstellung macht klar, warum es nicht allein der Hass auf das Gestern, sondern mehr noch die Sehnsucht nach einem anderen Morgen war, der eine ganze Generation von Architekten, Stadtplanern, Bauenden und Wohnenden in den geschichtsvergessenen Furor des nachkriegsmodernen Städtebaus geschickt hat. Gerade im Auftrag der Neuen Heimat, die zunächst günstigen Wohnraum schaffen (und später viel Geld damit verdienen) wollte. So sind all die Großbauten entstanden, die man noch heute kennt, fürchtet oder durchaus auch liebt: Nürnberg Langwasser, Kiel Mettenhof, Bremen Neue Vahr, Hamburg Mümmelmannsberg. Die Ausstellung bindet die Projekte geschickt ein in die Geschichte des Städtebaus und arbeitet die Verschiedenheiten heraus: Großsiedlung ist nicht gleich Großsiedlung.

Die Schau zeigt ihre Historie als Aufstieg und Fall der Neuen Heimat, aber auch des neuen Menschen. Der sich nach zwei Weltkriegen das Neue wünscht. Es war eine kollektive Sehnsucht, die noch heute aus den "Entlastungsstädten" spricht, die bald selbst zur Belastung wurden. Weil sie nicht immer funktionierten: sozial, räumlich, ästhetisch, urban. Die Bauten der Neuen Heimat taugten nicht immer zur neuen Heimat. Heute wäre aus den Fehlern zu lernen. Nicht das Museum kann die Frage beantworten, aber vielleicht die Architektur-Schmieden im Lande: Könnten Großsiedlungen - anders gebaut als damals - heute wieder eine Antwort auf die Wohnungsnot sein? Man fragt Bernt Lauter. Er sagt: "ja". Es ist ein stilles Ja. Aber ein Ja.

Die Neue Heimat (1950 - 1982). Eine sozialdemokratische Utopie und ihre Bauten. Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne: 28. Februar bis 19. Mai 2019.

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